Gehirnakrobatik nicht nur für alte Säcke.
Your Tiny World. Ich schreibe hier für uns alten Säcke. Etwas Gehirnakrobatik tut uns gut.
Mit starkem Reizstoff vom Gehirnbesitzer zum Gehirnnutzer. Und wieso Ältere einfach genug Informationen haben. Die Geschichte für Ü50iger und solche, die es noch werden wollen.
Roland Voser, 10. September 2016
Die letzten Stunden war ich unterwegs in Berlin.
Ich weiss ja nicht wirklich, was mit uns passiert, wenn wir die 50 überschreiten. Erlebt hab ich's ja und überstanden offensichtlich auch. Alles gut, wie man sagt.
Trotzdem erinnere ich mich in dieser Grossstadt an Martin Suter's "Small World", den ersten Teil seiner neurologischen Trilogie. Ein Roman, in dem der Hauptdarsteller unter fortschreitendem Gedächtnisverlust leidet und ihn das erfolgreiche Stoppen dieser Krankheit mit dem neuen Medikament "Pom55" trotzdem beinahe umbringt. Aber diese Geschichte erzählt Suter besser.
Nun, Porsche fahre ich seit Ü50 auch nicht, Lifting ist kein ernsthaftes Thema und eine Harley steht bei mir ebenfalls nicht in der Garage.
Dieses asketische Joggen war auch nie mein Ding. Gut, die elektronischen Gadgets nehmen etwas überhand. Aber stilsicher: Mit der Withings-Uhr und dem - entschuldigen Sie - unverschämt teuren, bereits zweiten Ersatzkalbslederarmband in Braun zähle ich meine Schritte. Tagesziel: 10'000. Die ich ausschliesslich im Malcantone oder an der IFA in Berlin erreiche.
Und ich kaufe bei Zalando ein und fühle mich tatsächlich gut dabei. Immer besser als vor dem Kauf.
Ich habe in der Zwischenzeit auch gelernt, dass Superdry für Herren über 30 (sagen wir über 40) nicht mehr so toll geeignet ist; Blut- und Leberwurst-Mode wäre hierfür die treffendere Bezeichnung. Den Newsletter von American Apparel habe ich auch abbestellt, nachdem sich zum schrägen Skinny-Look dieser Teile auch noch deren für mich zu synthetische Qualität gesellt hat.
Aber "Tiny World" peilt die Richtung in dieser Lebensphase durchaus korrekt an.
Nicht "Small", weil reduzierend, abbauend und destruktiv, sondern "Tiny", weil winzig, filigran, detailreich, konzentriert, fokussiert, insbesondere mit einem einzigen Blick erfassbar. Wie ein Uhrwerk und trotzdem im Wissen, die Funktion all dieser ineinander greifenden Zahnräder nicht auf Anhieb wirklich zu verstehen. Die Interaktion des Systems an seinen Grenzen gegen aussen aber immer klar erkennbar.
Wir also unterwegs im Taxi durch Berlin Mitte in Richtung Flughafen, und ich schaue zum Autofenster hinaus. Ich überlege mir, was alles erforderlich wäre, alle diese Menschen und Dinge so gekonnt zu steuern, dass alles exakt so funktioniert, wie es jetzt eben gerade abläuft.
Stell ich mir vor und Sie jetzt auch.
Haben Sie ihn bemerkt? Den Overload-Status, der sich in Ihrem Gehirn bei der Vorstellung dieser zu erbringenden Superdenkleistung angekündigt hat?
Ein erster leichter Druck in der reizüberfluteten Hirnrinde vielleicht? Oder sind sie noch beim Interpretieren meiner Satzkonstrukte?
Ihre Gedanken dazu hängen jedenfalls schon bei der Bereitstellung der erforderlichen Hirnleistungskapazität ab, und Sie versuchen, sich konsequenterweise nicht einmal vorzustellen, wie dieses Unterfangen nun funktionieren müsste.
Vielleicht haben Sie aber gerade jetzt doch an den Fahrradfahrer gedacht, der in der letzten Unterführung beim Fahren noch freihändig schmunzelnd einen Like-Button betätigt hat.
Er, der jetzt also um die Ecke herum radelnd exakt dann auf den weissen Wagen zugerauscht kommt, in dem der Beifahrer eine Sekunde vorher die Türe öffnet - und sie sofort wieder schliesst, weil er den Fahrradfahrer intuitiv von hinten vermutet, also zuerst vorbildlich den Sicherheitsblick nach hinten vollzieht und dann mit einem leichten Schauer erschrickt, als dann in demselben Augenblick der Schatten bereits über ihn hinweggeflitzt ist.
Ich meine, Sie müssten nicht nur diese Szene steuern, sondern auch die Gefühle, die beim Beifahrer bei seiner Vorstellung abgehen, wenn er denn die Tür trotzdem unachtsam geöffnet hätte. Wie laut wäre der Knall gewesen? In welcher Tonlage und mit welchem unendlichen Wellenspektrum hätte sich das hässliche Geräusch in die Ohren der in der Nähe stehenden Mutter gebohrt? Wie weit hätten ihre beiden Kinder die Augen aufgerissen? Wäre die Tür weggedrückt worden?
Oder wäre der Velokurier in seinem gut sichtbaren Dress quasi einfach über die Tür geflogen und knapp vor der Strassenbahn zum Liegen gekommen, die im gleichen und letzten Augenblick kreischend zum Stillstand gekommen wäre? Wer hätte sich im Tram den Kopf gestossen? Wer hätte sich verschluckt und würde jetzt um Luft schnappen, während sich seine Gesichtshaut bläulich verfärbt? Nicht vorzustellen, was noch alles hätte passieren können!
Denn spätestens da wäre die Mutter mit ihren beiden Kindern unweigerlich von der Szene erfasst worden. Die Kleine im Kinderwagen, das andere Kind auf dem Dreirad kurz unbeaufsichtigt, aber gleichzeitig exakt auf der möglichen Ausweichbahn des Kuriers, falls er reaktionsschnell den Lenker herumgerissen und die Wagentüre nur leicht gestreift hätte.
Dafür wäre in seinen Augen kristallklar die unausweichliche Kollision mit dem kleinen Gefährt und dem kleinen darauf sitzenden Kevin parallel zur unmittelbar sich potenzierenden Adrenalinausschüttung seines eigenen schweissnassen Körpers schrecklich sichtbar geworden.
Die Mutter - nennen wir sie Jackie - daneben ins Smartphone vertieft, Facebook wahrscheinlich. Snapchat hat sie noch nicht so richtig drauf oder morpht damit höchstens mit den Gesichtsfiltern rum. Sie tut, was Frauen in ihrem sozialen Netzwerk eben so tun, wenn sie ihre Sprösslinge ausführen. Belangloses Zeug liken? Mit Freundinnen quatschen, meinen Sie?
Wir fliegen Swiss. Business Class.
Gefällt mir, diese Analogie zu Suters gleichnamiger Kolumne in der Weltwoche in den 90igern.
Ein perfekter Maître de Cabine der alten Schule - also nicht zurückhaltend distanziert, sondern überaus freundlich mit bestem Schweizer Charme - hat mir nach dem kleinen Imbiss einen tollen Kaffee mit verführerischer Crema serviert. Dazu zwei Swiss-Schokolädli.
Den Kaffee lasse ich etwas abkühlen und öffne eine der Schokoladen. Teile sie in zwei Stücke, nehme eines in den Mund, dazu einen Schluck vom Schweizer Rotwein, und dann geht im Gaumen ein Fest der Sinne ab, und ich weiss wieder, in welcher Gegenwart ich bin. Köstlich. Einfach köstlich. Die Schokoladenpapierchen werden passend zur zuvorkommenden Bedienung wieder ordentlich zusammen gefaltet und auf die Untertasse gelegt. Jetzt zum Kaffee.
Ich schreibe auf Reiseflughöhe weiter.
Nein, Jackie stöberte in der Facebook-Chronik eines anderen Mannes. Nicht in der von Paul, ihrem Gatten, dem Vater ihrer beiden Kinder. Sondern in jener von (ich nehme einen Schluck Kaffee) Martin. So hiess der junge Mann, wohl 10 Jahre jünger als die 29-jährige Mutter.
Er hatte soeben ihren letzten Chat-Eintrag geliked, und sie erwartet etwas angespannt seine Antwort. Denn vielleicht macht er sich von seiner Arbeit frei und sie beide könnten sich dann treffen, nachdem sie die Kinder bei Paul's Mutter abgeliefert hat. Diese wohnt an der nächsten Querstrasse, aus der die Strassenbahn eben in die Hauptschlagader mit Fahrradstreifen eingeschwenkt ist.
Sie bemerkt im Augenwinkel noch kurz das Auf- und sofort wieder Zugehen einer weissen Wagentür. Martin hat noch nicht geantwortet. Sie erkennt das Gesicht des Fahrradfahrers. Ihr Herz stockt.
Jetzt.
Stille.
Die Szene steht.
Die Bewegungen gestoppt.
Der Film angehalten, ohne dass das Zelluloid nun schmelzen und Feuer fangen würde. Der Kurier etwa einen Meter vor dem weissen Wagen, sein Gesicht in entsetzter Erwartung eingefroren. Kein Lärm, vollkommene Stille. Kein Geschehen mehr. Die Kinder beim Drehen ihres Kopfes unterbrochen, ihre Augen haben noch keinen festen Halt gefunden.
Und jetzt Sie.
Ja Sie, die Sie diese Zeilen gelesen haben und wissen wollen, was nun passieren wird.
Aber jetzt sind Sie selbst am Zug.
Entscheiden Sie sich.
Für den dreijährigen Jungen und seine kleine Schwester Martha, die gestern gerade das erste Wort über die Lippen gebracht hat.
Oder für den sympathischen und hochanständigen Martin, der sich seinen Start ins Biologiestudium mit diesen Kurierfahrten mühselig verdient und so seine ganze Freizeit für seine vielversprechende Zukunft einsetzt.
Wir sind gelandet.
So gut, wie damals mit jeder Swissair-Maschine bis zu ihrem unvorherstellbaren Grounding. Damals, als einen im Ausland beim Eintritt in eine Swissair-Maschine bereits das Heimatgefühl überkam.
Heute schafft das die deutsche Swiss nur noch bedingt. Der erwähnte Maître hat aber zweifellos einen immer rarer, aber dafür umso wertvoller werdenden Beitrag dazu geleistet.
Ich stelle bei mir neuerdings eine einsetzende Vorliebe für kleine, klar erfassbare Dinge fest. Es macht mir Spass, kleine Wagen zu fahren und in einer Wohnung zu leben, in der, einer Schiffskajüte gleich, jeder noch so kleine Stauraum optimal in den Wohnprozess eingeplant und anschliessend fix integriert ist. Ich fotografiere gerne die kleinen unbedeutenden Dinge am Wegesrand und stelle mir die übergrossen Welten der darin lebenden Mikro-Organismen vor. Ich schreibe gerne wieder mit dem Caran d'Ache-Silberfüller und seiner blauen Tinte. Mir genügt ein faszinierender Vorspann, wie bei Stephen Daldry's "The Hours" mit Philip Glass’ sagenhafter Musik.
Die logische Fortsetzung dieser Gedanken sind Geschichten wie diese, die vollständig im Kopf ablaufen und trotzdem - zwar weit weg von jeder Realität - doch irgendwie am Geschehen sind.
Der Dichtestress wird kontrollierbar.
Die Reizüberflutung dimmbar und der jahrelangen Informationsanhäufung wird etwas Einhalt geboten.
Dem Gehirn werden aktive Erholungsphasen verordnet, nach 50 Jahren wohl nicht die dümmste Idee. Manche sollten etwas früher damit beginnen. Sie können dann auf andere, teurere, meist rasch vergänglichere Formen des Ausgleichs verzichten.
Damit wird dieser Rückzug vordergründig paradoxerweise zu einer Antriebsquelle. Für die Bereitstellung notwendiger Energie, um sich immer wieder unbeschwert mit Neuem auseinander setzen zu können.
Sie kennen das vielleicht, wenn Erfahrene vermehrt Hinderungsgründe auflisten und Chancen weniger zu gewichten beginnen oder gar in den Hintergrund drängen, ja ignorieren.
Das passiert unabhängig vom Alter, verstärkt sich zwar bei Älteren und gipfelt meist in einfachen, nicht länger reflektierten Parolen, die zu Glaubenssätzen werden.
Damit wird Inspiration und das darauf folgende Schaffen von Neuem zweifellos massiv gestört, oft in der Tat ganz verhindert.
Was beim Individuum gilt, kann auf Mehrere übertragen werden.
Das mit diesem Modell einhergehende Innovationsdefizit führt in Unternehmungen letztlich zum Marktaustritt.
Wir haben diesen Sommer den Estrich ausbauen lassen.
Etwas unpraktisch ist er geworden. Aber gleichzeitig wunderbar. Ein Atelier mit unbehandelt gehobeltem Holzboden. Die Wände roh verputzt und die Dachbalken sorgfältig mit eingekleidet. Meine alten Lieblingsbilder stehen nun am Boden angelehnt an diese Wände.
Daneben alle Farben (Acryl, Wasser, Kreide, Farbstifte, Kohle), weisse Leinwände und viel anderes Malmaterial. Alles fein säuberlich geordnet. Nur zwei Steckdosen.
Auf dem zweiten Teil der Dachbodenfläche sind in Archivboxen die Dinge der letzten Jahre sorgfältig verstaut.
Sie leisten der Person Gesellschaft, die am (damals in der ABM gekauften) Schreibtisch meiner Studentenzeit Platz nimmt und in diesem begrenzten Raum das tut, was sie dann eben tun muss. Eine insgesamt grosse Fläche. Aber mit einer Raumhöhe von sagen wir 150 cm beim Dachfirst und etwas unter Oberschenkelhöhe an den Seitenwänden ist das ziemlich unpraktisch zum Stehen.
Aber das ist die Tiny World: Demut nicht bloss im Kopfraum üben. Respekt dem Offensichtlichen, der Einfachheit gegenüberwachsen lassen. In diesem Raum kann man alles verstehen, wenn man will. Und mehr, wenn man will.
Ich spiele mit dem Gedanken, einen Kurzfilm in diesem Raum zu drehen. Mit einem einzelnen Menschen als Protagonisten. Er würde Martin heissen. Die Dinge um ihn herum wären der restliche Cast. Vielleicht mit einer Einstellung einer startenden Maschine vom Flughafen Lugano als Kontrapunkt, bevor die Geschichte ihren unaufhaltsamen Lauf in ihrer ganzen Tragik und Schönheit nehmen würde.
Und ich hätte dabei die Kontrolle, stets die freie Wahl.
Seit 2018 Chief Editor, Mitbegründer, Verwaltungsrat und Teilhaber von smartmyway, Autor, Coach, Mentor und Berater. Vorher als Geschäftsführer von Media Markt E-Commerce AG, Media Markt Basel AG, Microspot AG sowie in den Geschäftsleitungen von Interdiscount AG und NCR (Schweiz) AG tätig.
Experte für Digitalisierung, Digital-Business, Handel, Sales & Marketing, E-Commerce, Strategie, Geschäftsentwicklung, Transformationen, Turn Around, Innovation, Coaching, erneuerbare Energien, Medien, Professional Services, Category Management, Supply Chain Management