Schweizer Stromgesetz - besser wenig als nichts?
Die Schweiz stimmt am 9. Juni 2024 über das Stromgesetz ab. Die SVP nimmt die Gegenposition ein. Zu Recht?
Die SVP gibt sie nach anfänglichem Ja also doch raus: Die Nein-Parole zum Stromgesetz. Das Volk wird am 9. Juni 2024 über die Vorlage abstimmen. Greift das nun einsetzende SVP-Bashing zu kurz, oder hat der Blocher-Clan kurzen Prozess mit seiner verträglichen politischen Arbeit der letzten Zeit gemacht? Klar ist, dass handfeste wirtschaftliche Interessen in diesem Milliarden-Markt mit im Spiel sind und der Abstimmungskampf nicht unzimperlich zu werden verspricht. Was hat es also auf sich mit diesem Mantelerlass? Der Artikel gibt aus Sicht eines Abstimmenden Antworten und orientiert sich am Text der Vorlage.
Roland Voser, 6. April 2024
Zuerst etwas Grundsätzliches.
Wenn Sie Schweizerin oder Schweizer sind, haben bestimmt auch schon abgestimmt. Ich habe bisher an 361 Abstimmungen teilnehmen und damit an Sachgeschäften des Schweizer Bundestaates mitbestimmen dürfen. Während meiner Zeit hat das Volk 193 Vorlagen abgelehnt und 168 Geschäften zugestimmt. Eine Zustimmungsquote von 46.5% ist erstaunlich hoch, denn meist werden wir Abstimmenden als Nein-Sagerinnen und Nein-Sager taxiert. Das ist also nicht so, und das ist gut. Es zeugt von einem konstruktiven, verantwortungsvollen Mitwirken der Menschen in diesem Land und von einem sehr guten Funktionieren der direkten Demokratie.
Ich habe mir also überlegt, wie ich dieses Stromgesetz verstehen, beurteilen und darauf basierend vernünftig abstimmen könnte. Dazu etwas Grundsätzliches: Im Abstimmungstext ist jeweils die Vorlage im Wortlaut aufgeführt. Bei dieser Vorlage werden konkret zwei Gesetzestexte verändert: Erstens das Energiegesetz vom 30. September 2016 und zweitens das Stromversorgungsgesetz vom 23. März 2007. Die Vorlage betrifft also zwei Gesetze. Sie zeigt auf, was an diesen Gesetzen verändert werden soll. Liest man also den Abstimmungstext durch, weiss man zwar, was verändert werden soll, kennt aber die beiden Gesetze in ihrer Gesamtheit nicht.
Dieser Umstand erschwert es uns Abstimmenden, den Sachverhalt in seiner Gesamtheit erfassen zu können. Denn wir müssten also auch den bisherigen Gesetzestext vor uns haben, um tatsächlich diese Sachfrage ganzheitlich beurteilen und unsere Stimme entsprechend abgeben zu können.
Die Schweizer Energiesache ist verkorkst.
Hinzu kommt, dass das Ganze eine komplizierte und lange Vorgeschichte hat. Ein guter Einstiegspunkt ist die Energiestrategie 2050, denn mit ihr kam das Schweizer Energiedurcheinander richtig in Fahrt.
Die Energiestrategie 2050 …
wurde von der Mitte-Bundesrätin Doris Leuthard und ihren Energieexperten aus Politik und Bundesamt verantwortet,
hat mit dem Energiegesetz am 21. Mai 2017 ein nachträgliches Bauverbot für Kernkraftwerke verankert, obwohl das Volk ein halbes Jahr zuvor den Atomausstieg abgelehnt hatte,
sah den Atomausstieg ohne klimafreundlichen Ersatz vor, sondern belegte vielmehr die klimafreundliche Kernenergie mit einem Bauverbot,
hat CO2-nicht-neutrale Gas-/Ölkraftwerke als Kompensation für den Atomausstieg geplant (die zwar nie gebaut wurden und damit die heute empfindliche Stromlücken riskieren werden),
hat die Ablösung der Fossilen nicht berücksichtigt und vertritt damit elementare Klimaanliegen nicht,
hat das saisonale Speicherproblem von Erneuerbaren (z.B. Photovoltaik: Unterproduktion bei Mehrbedarf im Winter, Überproduktion im Sommer) vergessen,
hat die Tagesschwankungen von Erneuerbaren (z.B. Photovoltaik: Unterproduktion in der Nacht, unsichere Produktion am Tag) ausser Acht gelassen,
hat die Netzkapazitäten für eine dezentrale Stromerzeugung unterschätzt und den massiven Zusatzbedarf für die Ablösung der Fossilen nicht berücksichtigt,
ist nach wie vor gültig und riskiert damit noch heute konzeptlos die Energieversorgung- und -sicherheit der Schweiz,
gibt ideologischen Argumenten vor physikalischen Gesetzmässigkeiten und technischen Sachzwängen den Vorrang,
betreibt eine falsche Förderpolitik, die die bereits genügend vorhandene Nachfrage zusätzlich befeuert,
bekämpft den Fachkräftemangel nicht und fördert die Unabhängigkeit eigener Produktionsunternehmen im Energiesektor unschlüssig und nicht zielführend,
hat das rasante Bevölkerungswachstum der letzten Jahre nicht vorausgesehen und nicht berücksichtigt,
verpolitisiert das ganze Energiethema unnötig und
hat die Energiepolitik zum Spielball von Links und Rechts gemacht.
Die Energiestrategie gefährdet aktiv Wohlstand und sozialen Frieden und ist damit für die Schweiz effektiv gefährlich. Zugegebenermassen ein vernichtendes Fazit, aber wer will ernsthaft etwas anderes behaupten?
Wir haben hier ein inkompetentes Machwerk vor uns, das jeden vernünftigen Menschen sprachlos macht. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass im Rückblick alles einfach zu kritisieren ist. Dennoch habe ich bisher in der Schweiz noch nie etwas derart unausgegoren Wichtiges beobachtet wie die Schweizer Energiepolitik der letzten 10 Jahre.
Dies mag damit zusammenhängen, dass sich die Experten zu wenig eingebracht und das Thema zu oft Halbwissenden überlassen haben. Möglicherweise auch damit, dass die von Links gewollte Veränderung zwar offensichtlich unprofessionell eingeleitet wurde, die Rechte das Anliegen nach Erneuerbaren aber ignoriert und damit den Raum zur einsetzenden unkontrollierten Veränderung auf der ganzen Breite erst ermöglicht hat.
So sieht bereits heute die Klimabewegung den Atomausstieg wieder kontrovers und hat die Schweizer Energiestrategen auf dem linken Fuss erwischt: Denn - entschuldigen Sie - wer ist schon derart von allen guten Geistern verlassen, dass er klimaneutrale Atomkraftwerke durch CO2-Schleudern in Form von Gas-/Ölkraftwerken ablösen wollte?
Mit diesen groben Widersprüchen lebt die Schweiz also spätestens seit 2017.
Ein neuer Anlauf mit dem Stromgesetz.
Die Politik versucht, diese Misere wenigstens abzuschwächen. Sarkastischerweise hat jetzt, dank der unsicheren Weltlage, ein Umdenken eingesetzt. Die nötige konsequente Kurskorrektur bleibt aber aus, weil noch zu viele Personen im Amt sind, die dieses Energiechaos mitverursacht haben. Die Frage stellt sich also, ob das zur Debatte stehende Stromgesetz wenigstens in die richtige Richtung weist und damit grösserer Schaden von der Schweiz noch abgewendet werden kann. Denn immerhin fusst der gesamte Wohlstand und soziale Frieden der Schweiz primär auf einer gesicherten Energieversorgung, die insbesondere auch für alle bezahlbar ist.
Man muss die Blochers nicht mögen. Die Medien untergraben die Glaubwürdigkeit dieser Unternehmerfamilie systematisch. Ihre Protagonisten sind dafür ein dankbares Opfer (Gerhard Blocher im SRF-Dok und Magdalena Martullo-Blocher und ihre Seven Thinking Steps). Doch angesichts der Energiestrategie 2050: Welchen Politikern ist bei diesem Thema noch zu trauen? Etwa jenen Parlamentariern und Parlamentarierinnen, die von Links bis weit über die Mitte hinaus diese ungesicherte Energieversorgung vollbracht haben?
Nehmen wir beispielsweise die Arena von SRF vom 5. April 2024 und betrachten wir die Interessenlage der Gesprächsteilnehmenden. Dazu genügen die ersten anderthalb Minuten der Sendung.
Zuerst die Befürworter:
Philipp Matthias Bregy (Präsident Mitte-Fraktion im Nationalrat) ist unter anderem im Verwaltungsrat von Kraftwerkbetreibern, die unmittelbar vom Stromgesetz profitieren würden und denen konkrete neue Förderung in Aussicht gestellt würde. Er behauptet, dass das Stromgesetz dringend nötig sei, um rasch erneuerbare Energien zuzubauen. Nur so könne die Versorgungssicherheit gewährleistet werden (was ich im Artikel widerlegen werde).
Florence Brenzikofer (Vizepräsidentin Grüne) ist im NGO-Umfeld engagiert und behauptet, dass mit dem Stromgesetz der beschlossene Atomausstieg sowie der Ersatz der Fossilen mit Erneuerbaren gelingen würde (was ich beides im Artikel widerlegen werde, zudem wurde der Atomausstieg vom Volk nicht beschlossen, sondern 2016 abgelehnt).
Susanne Vincenz-Stauffacher (Parteileitung FDP) ist unter anderem Präsidentin vom Schweizerischen Wasserwirtschaftsverband, der primär Kraftwerkbetreiber umfasst, die unmittelbar vom Stromgesetz profitieren würden und denen konkrete neue Förderung in Aussicht gestellt würde. Sie behauptet, dass die Diskussionen über Kern- und erneuerbare Energien getrennt geführt werden müssten und dass wir einen stabilen Strommix benötigten (aus welchem Grund die Diskussion getrennt geführt werden soll, bleibt unklar: Das Volk soll offensichtlich zuerst die weniger bestrittenen Erneuerbaren bewilligen. Im Nachgang werden die Karten auf den Tisch gelegt, und unter Aufzeigen der tatsächlichen Situation wird klar gemacht, dass es ohne Kernenergie nicht gehen wird - was ich im Artikel darlegen werde).
Auf der Gegnerseite finden sich:
Thomas Matter (Vizepräsident SVP) ist Verwaltungsrat der Helvetischen Bank, im Immobilien- und Bankensektor tätig und dürfte primär parteipolitisch in diesem Gesetz motiviert sein. Er behauptet, dass der Ausbau der Erneuerbaren nicht reiche (was ich im Artikel darlegen werde), zudem würden die Monsterwindräder die Landschaft verschandeln (was eine Ermessensfrage ist und im Gesetz mit Landschaftsschutzmassnahmen verhindert werden soll - der SVP-Plan ist durchsichtig: Sie schiesst sich mit der Windkraft auf den im Volk umstrittensten Energieträger ein).
Vera Weber (Präsidentin Fondation Franz Weber) kommt aus einer passionierten Landschaftschutzfamilie und war unter anderem für die Zweitwohnungsinitiative verantwortlich. Sie ist als weiterer Gast geladen, der von der Regie nicht positioniert wird. Im Verlaufe der Diskussion findet sie, dass zuerst alle Bauten mit Solaranlagen bebaut werden sollen, bevor die Landschaft in Mitleidenschaft gezogen werden soll (was an sich nicht von der Hand zu weisen ist, aber die grossen Schwachstellen der Energiestrategie nicht wie erforderlich neutralisieren könnte).
Diese kurze Auslegeordnung ist ernüchtern, finden Sie nicht? Würden Sie sich nun den Befürwortern oder den Gegnern anschliessen? Bei mir würde es beispielsweise besser ankommen, wenn Herr Bregy sagen würde: Wir als Vertreter der Kraftwerksbetreiber erhalten mit dem Stromgesetz neue Fördermittel, die wir für den Bau neuer Speicherseen einsetzen werden."
Wie auch immer: Der SVP-Bundesrat Albert Rösti bringt also ein neues Stromgesetz vors Volk, dass die Energiesicherheit des Landes in den Vordergrund rückt. Dieser Ansatz ist zweifellos besser als einfach mal so Atomkraftwerke abzustellen. Trotzdem lehnt seine Partei das Gesetz ab, nachdem sie es vor einigen Wochen noch positiv unterstützte. Woher kommt dieser Meinungsumschwung?
Ich weiss es nicht, und das ist auch egal, denn als Schweizer Bürger werde ich unabhängig davon am 9. Juni 2024 zur Abstimmung über den nächsten Energieplan gerufen, und ich werde meine Verantwortung wahrnehmen. Ist dieses Stromgesetz mehr als ein weiterer Entpannungsversuch der mittlerweile allseits anerkannt untauglichen Energiestrategie 2050? Kriegt dieses neue Stromgesetz die verkorkste Schweizer Energiesache wieder flott? Oder ist die Blocher-Opposition tatsächlich auch sachlich begründet?
Zur Beantwortung habe ich mir das Stromgesetz näher angeschaut. Ich tue dies als Abstimmender, der sich seine Meinung zu einem politischen Geschäft bilden muss. Ich bin in dieser Sache kein Experte und versuche, mit gesundem Menschenverstand die Vorlage beurteilen zu können.
Die nötigen Informationen finden sich vor allem in den Quellen vom Bund.
Vorlage für eine sichere Stromversorgung: Abstimmung am 9. Juni 2024 (Link)
Abstimmungstext im Wortlaut, Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien vom 29.09.2023 (Link)
Das mit dem Bundesgesetz zu ändernde Energiegesetz (EnG) vom 30. September 2016 (Link)
Das mit dem Bundesgesetz zu ändernde Bundesgesetz über die Stromversorgung (Stromversorgungsgesetz, StromVG) vom 23. März 2007 (Link)
Schweizerische Energiestatistik 2022 (Link), Gesamtenergieverbrauch: 765’070 TJ = 212.5 TWh.
Bevölkerung 2022 (Link): 8’815’385.
Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung (Link), Referenzszenario Bevölkerung 2035: 9’758’500, 2050: 10’440’600.
Tagesverlauf der Stromproduktion (Link), Spitzenenergie, Speicherung, Kernenergie.
Hier geht’s zu den Stromgesetz-Befürwortern (Link), Argumentarium (Link), Fragen und Antworten (Link)
Hier geht’s zu den Stromgesetz-Gegnern (Link), Kurzargumentarium (Link), Argumentarium (Link)
Aus der Rahmengebung im Stromgesetz lässt sich ein Energieverbrauchsszenario ableiten.
Aus dem Wortlaut des Stromgesetzes mit seinen Zielsetzungen für das Wachstum bei Wasserkraft und Erneuerbaren (Solar- und Windenergie) sowie den Verbrauchsreduktionszielen pro Kopf habe ich ein Energieverbrauchszenario der Schweiz für die Jahre 2035 und 2050 erhoben und in der folgenden Tabelle dargestellt. Damit ergibt sich ein Gesamtbild des Stromgesetzes und lässt seine fundierte Einordnung zu. Für mich ist diese Übersicht die erforderliche Entscheidungsgrundlage für meine Stimmabgabe.
Die dazu bestimmenden Eckpfeiler des Stromgesetzes sind:
Eine knappe Verzehnfachung der Erneuerbaren in den nächsten 25 Jahren oder eine Versiebenfachung in den nächsten 10 Jahren.
Eine weiterer Ausbau der Wasserkraft um 30% in den nächsten 25 Jahren oder um einen Viertel in den nächsten 10 Jahren.
Eine Halbierung des Energieverbrauchs pro Kopf in den nächsten 25 Jahren, bezogen auf das Jahr 2000 oder eine Reduktion von über 20% bezogen auf das Jahr 2022.
Die folgende Tabelle setzt auf dem tatsächlichen Energieverbrauch im Jahre 2022 auf und integriert die im Stromgesetz formulierten Eckpfeiler. Als Annahmen wurden getroffen:
Die im Stromgesetz enthaltene Energieverbrauchsreduktion soll unter Berücksichtigung des Bevölkerungswachstums bereits 2035 und erneut 2050 zu einem substantiell reduzierten Gesamtenergieverbrauch führen.
Mit diesem Rahmen wurden die beiden Energieträger Wasserkraft und Erneuerbare entsprechend den Zielsetzungen übernommen. Dazu wurde der Einfachheit halber der Strommix von Produktion und Verbrauch gleich gesetzt. Eine mögliche Differenz würde Import oder Export bedeuten. Das Stromgesetz will Import im Winterhalbjahr mit 5 TWh deckeln, was einige wenige Prozent des Gesamtverbrauchs ausmacht und damit für diesen Aspekt vernachlässigbar ist.
Bei allen anderen Energieträgern wurde eine gleichbleibende Fortführung angenommen (auch bei Kernenergie).
Auf dieser Grundlage wurden im Sinne der Klimaziele Kohle, Erdölprodukte und Gas soweit reduziert, dass der vom Stromgesetz prognostizierte Gesamtenergieverbrauch eingehalten bleibt.
Schlussfolgerungen aus dem Energieverbrauchsszenario.
Anhand des errechneten Energieverbrauchsszenarios ergeben sich konkrete Fragen, die das Stromgesetz schlüssig beantworten muss, wenn es zielführend sein soll.
1. Wie beantwortet das Stromgesetz die Frage, wie der Energieverbrauch reduziert werden soll?
Gemäss Szenario will die Schweiz im Jahr 2050 mit rund 20% mehr Bevölkerung insgesamt rund 25% weniger Strom verbrauchen als im Jahr 2022. Der Energieverbrauch pro Kopf muss dazu erheblich sinken.
Mit welchen Massnahmen soll diese Reduktion realisiert werden? Das Stromgesetz will mittels Verschärfung der Vorschriften über den Energieverbrauch von Produkten und Anlagen diese Reduktion erzielen.
Dies bedeutet den Einsatz neuer Technologien in neuen oder revidierten Produkten und Anlagen. Damit verbunden sind erhebliche Investitionen seitens der Konsumenten und Unternehmen in solche energieeffizientere Produkte und Anlagen oder den Verzicht darauf. Daraus folgt in der Regel eine Erhöhung der Verkaufspreise oder eine angespanntere Lebenssituation sowie eine verstärkte Unzufriedenheit der Bevölkerung.
Dies bedeutet in jedem Fall Nachteile für die einkommensschwächere Bevölkerung und voraussichtlich auch einen Strukturwandel in der Schweizer Unternehmenslandschaft (ein Blick nach Deutschland begründet diese Aussage). Es ist diesbezüglich mit ähnlichen Entwicklungen zu rechnen wie am Beispiel der Elektromobilität.
Das Gesetz gibt richtigerweise eine Rahmengebung vor. Das Ausfüllen des sich damit ergebenden Handlungsspielraumes mit konkreten Massnahmen ist Sache der Exekutive bzw. auf Bundesebene des Bundesrates. Diese Rahmengebung vernachlässigt im Hinblick auf den sich abzeichnenden existentiellen Strukturwandel jedoch zu stark die sozialen Aspekte einer Bevölkerung, die sich in einigen Jahren mit einem markanten gesellschaftlichen Wandel konfrontiert sieht.
Hier ist wirkungsvolle Nachbesserung angezeigt, doch die Politik wird wohl diese kritische Auseinandersetzung jetzt noch nicht mit dem Volk an der Abstimmungsurne führen wollen, sondern vielmehr erst für sich anlässlich der im Anschluss folgenden Kernenergiediskussion pro oder kontra nützen.
2. Wie beantwortet das Stromgesetz die Frage, wieso die Schweiz trotz dieses neuen Gesetzes nicht klimaneutral wird?
Das Szenario zeigt, dass die Schweiz damit im Jahr 2050 noch nicht klimaneutral ist: Der Gasverbrauch umfasst in der Prognose immer noch einen Anteil von 14% am Gesamtenergieverbrauch.
Mit welchem klimaneutralen Energieträger sollen diese knapp 25 TWh ersetzt werden, wenn gleichzeitig der Stromimport im Winterhalbjahr bei 5 TWh gedeckelt ist, die Jahresproduktion vom AKW Leibstatt ca. 10 TWh bzw. vom AKW Gösgen ca. 8 TWh beträgt und damit zwei bis drei neue AKWs für Klimaneutralität zusätzlich nötig wären?
Würde tatsächlich auch der Atomausstieg vollzogen, dann müssten im Jahre 2050 nicht 25 sondern 45 TWh bzw. knapp 30% des gesamten Energieverbrauchs zusätzlich klimaneutral ersetzt werden. Oder anders gesagt: Im Jahre 2050 müssten in der Schweiz immer noch rund 28% (!) des Gesamtenergieverbrauches mit fossilen Energieträgern erfolgen.
Das Stromgesetz beantwortet diese Frage nicht. Das Thema Klimaneutralität wird nicht erwähnt. Die Ablösung der fossilen Energieträger ist nicht thematisiert. Der Atomausstieg bleibt unerwähnt.
Ein Stromgesetz, das angesichts der Klimaziele die Ablösung der fossilen Energieträger nicht beinhaltet und die Konsequenzen aus dem Atomaustieg nicht behandelt, ist weit mehr als ungenügend und zurückzuweisen.
Dass dem Souverän die Situation somit nicht umfassend dargelegt wird, ist für eine direkte Demokratie äusserst fragwürdig.
3. Wie beantwortet das Stromgesetz die Frage, mit welchen Stromspeichern die Glättung der Produktion und Nachfrage erfolgen soll?
Im Szenario wird klar, dass die Stromproduktion per 2050 mit 87% quasi verdoppelt werden muss, damit wenigstens ein grosser Teil der Fossilen abgelöst werden kann.
Der Anteil der Erneuerbaren prognostiziert das Energieverbrauchsszenario per 2050 mit knapp 30% am Gesamtenergieverbrauch. Dieser Energieverbrauch unterliegt jedoch saisonalen Schwankunkungen (Erfahrungswert: Photovoltaik benötigt in der Schweiz im Winter etwa die dreifache Produktionsfläche, damit sie ungefähr gleich viel Energie wie im Sommer produziert).
Mit welchen Stromspeichern soll die zur Energiesicherheit zwingend notwendige Glättung erfolgen bzw. mit welchen Massnahmen sollen diese massiven Produktionsunterschiede ausgeglichen werden?
Das Stromgesetz subventioniert die Stromspeicherung mittels Speicherseen und Speichkraftwerken. Damit werden Bundesgelder zu den Kantonen und den Kraftwerksbetreibern fliessen, die über Speicherseen und Speicherkraftwerke verfügen. Wieso werden keine Standortkantone für Atomkraftwerke subventioniert, wenn diese den nötigen Ausgleich ebenfalls liefern wollten?
Das Stromgesetz erwähnt Speicherkraftwerke im Umfang von 6 TWh (2 TWh sofort abrufbar), die bis 2040 realisiert sein sollen. Angesichts des heutigen Strombedarfs beträgt der Unterschied zwischen Sommer und Winter rund 10 TWh und damit 15% der aktuellen Stromproduktion. Per 2050 sollen die Erneuerbaren ca. 45 TWh liefern. Mit 6 TWh könnten bloss 13% der unstabilen Leistung der Erneuerbaren ausgeglichen werden, was höchst wahrscheinlich zu wenig ist. Wenn der Anteil der Erneuerbaren auf 28% erhöht wird, wird der benötigte Ausgleich mindestens eine Verdoppelung nach sich ziehen. Sicherheitshalber wäre mit einer Verdreifachung zu rechnen. Somit wäre hypothetisch eine zusätzliche Speicherkapazität von zum Beispiel 15-20 TWh erforderlich.
Das Stromgesetz berücksichtigt den zusätzlichen Stromspeicherbedarf ungenügend, weil sich mit dem substantiellen Ausbau der Erneuerbaren der bereits heute bestehende Ausgleichsbedarf weiter vermehrfachen wird.
Zusammenfassung.
Das neue Stromgesetz geht wohl in die richtige Richtung. Sie ist jedoch zweifellos ungenügend. Sie stellt weder die Energiesicherheit der Schweiz noch deren Klimaneutralität sicher:
Die Vorlage blendet möglicherweise drastische soziale Folgen aufgrund der Energieverbrauchsreduktion aus.
Die Vorlage stellt offensichtlich auch per 2050 die Klimaneutralität der Schweiz nicht sicher.
Die Vorlage unterschätzt erheblich den zukünftigen Stromspeicherbedarf und stellt somit die Energiesicherheit ungenügend sicher.
Damit bleibt auch diesmal die Schlussfolgerung: Politik und Regierung haben mit dem Stromgesetz wiederum eine unvollständige Arbeit abgeliefert. Doch möglicherweise ist politisch aktuell einfach nichts anderes machbar, um den verfehlten Energiekurs der letzten Jahre wieder zu korrigieren: Die Politik scheint unabhängig vom Parteilager zumindest der gleichen Ansicht zu sein, dass die Verbesserung in Schritten erfolgen muss.
Es zeichnet sich somit ab, dass das Stromgesetz nur der erste Akt im Entpannungsdrama der Schweizer Energiepolitik ist. Quasi das Vorspiel. Ans Eingemachte wird es im nächsten Kapitel gehen - dort, wo dem Souverän klar gemacht werden muss, dass Energiesicherheit und Klimaneutralität nach wie vor nicht gewährleistet sind und es jetzt dazu entweder neue Kernkraftwerke oder drastischen Verzicht mit gleichzeitig substantiellem Bevölkerungsrückgang braucht.
Für mich zeichnet sich ein unüberzeugtes Ja ab, denn besser ist bekannterweise wenig als gar nichts. Eines ist jedoch klar: So wie die letzten 10 Jahre gewurschtelt wurde, kann es nicht weiter gehen. Aus meiner Sicht fragwürdig bleibt, dass gegenüber dem Souverän die Situation trotz ihrer grossen Tragweite nicht transparent aufgezeigt wird und die Politik mit offensichtlichen Falschaussagen operiert (siehe oben im Arena-Abschnitt). Das ist inakzeptabel, und zufrieden darf man damit überhaupt nicht sein. Ich deute daher die SVP-Opposition so: Die Partei bringt bereits im ersten Akt die nötigen Argumente, die später das Finale entscheiden werden, und sie wird damit ihre Glaubwürdigkeit langfristig eher stärken, als schwächen.
Eigentlich ganz gut durchdacht.
Zum Schluss ein Augenzwinkern zum laufenden Abstimmungskampf: Auch Christian Wasserfallen ist offenbar noch unentschlossen. Er ist sowohl als Befürworter des Stromgesetzes als auch als Gegner aktiv (siehe Screenshots vom 6. April 2024).
Ihr Feedback ist stets willkommen (Link)!
Seit 2018 Chief Editor, Mitbegründer, Verwaltungsrat und Teilhaber von smartmyway, Autor, Coach, Mentor und Berater. Vorher als Geschäftsführer von Media Markt E-Commerce AG, Media Markt Basel AG, Microspot AG sowie in den Geschäftsleitungen von Interdiscount AG und NCR (Schweiz) AG tätig.
Experte für Digitalisierung, Digital-Business, Handel, Sales & Marketing, E-Commerce, Strategie, Geschäftsentwicklung, Transformationen, Turn Around, Innovation, Coaching, erneuerbare Energien, Medien, Professional Services, Category Management, Supply Chain Management