Das Tessin müsste Kathrin Rüegg neu erfinden.
Zwischen uns die Berge. Das Tessin müsste Kathrin Rüegg neu erfinden.
Im Nachlass von Kathrin Rüegg stiessen wir auf eine Sendung des Tessiner Fernsehens, wo sich eine illustre (Männer-) Runde Gedanken zum Tessin und seiner Beziehung zur Deutschschweiz, oder genereller, seinen Touristen aus dem Norden macht. Diese 1996 aufgezeichnete Sendung zeugt von einem erstaunlich ungefestigten Selbstverständnis der Südschweiz, das an diesem Abend folglich kontrovers diskutiert wurde und aus heutiger Sicht interessante Einblicke und Rückschlüsse zulässt.
Auch, weil die Sendung das Schaffen und Wirken von Kathrin Rüegg - der Deutschschweizerin und Wahltessinerin - zum Anlass für die Diskussion hatte und darin ernsthaft hinterfragte. Nicht nur kritisch bezüglich ihrer pointierten Rolle im Verzascatal, sondern auch betreffend der eigenen Reaktion und dem eigenen Umgang der Einheimischen mit dieser Deutschschweizerin oder eben den aus dem Norden Kommenden im Allgemeinen. Die zu Tage getretenen Befindlichkeiten beleuchten wir also rückblickend nochmals, ohne den Gegenwartsbezug zu überanstrengen. Dennoch spannen wir das Ganze für das Verständnis nötige Spektrum auf. Impulse für eine neue Diskussion daraus könnten für das Selbstverständnis des Tessins und seine Beziehungen zur Schweiz wertvoll sein. Die aus der Distanz entstehende Milde im Rückblick auf die damalige Situation ist für Neues und Konstruktives hilfreich. Ein Konzept “Sehnsucht Tessin” möglicherweise ein Resultat daraus.
Im Anhang ist die anderthalbstündige Sendung in Italienisch einsehbar und mit einem kompletten Transkript in deutscher Sprache versehen. Den Dok-Film über Kathrin Rüegg von Vasco Dones haben wir dank der unkomplizierten Hilfe vom RSI ebenfalls verlinken können.
Dazu losgelöst eine Bildstrecke von der Cantina Monti in Cademario. Sergio Monti machte mit seinen Söhnen Ivo und Delio in den 70igern die verlassenen Weinberge in den Ronchi von Cademario wieder nutzbar und setzte seine Passion für Spitzenweine mit einer eigenen Produktion um. Sein über die Weltmeere weitgereister Sohn Ivo Monti übernahm von ihm die Leitung, verstärkte den naturnahen Weinanbau und ist zweifellos einer der besten Gastgeber im Kanton Tessin: Seine Geschichten sind legendär, sein Wissen faszinierend und sein Unternehmertum begnadet. Viele Auszeichnungen durfte der bodenständige Kosmopolit für seine Weine über die Jahre entgegennehmen und wurde 2018 als die 10. Wein-Ikone in den exklusiven Kreis von GaultMillau aufgenommen. Im letzten Jahr hat seine Tochter Sabrina die Cantina übernommen und leitet sie nun in der dritten Generation. Im vorliegenden Kontext steht die Cantina Monti für innovatives Unternehmertum, höchste Produktequalität, eine ausgeprägte Verbundenheit mit der Tessiner Erde und eine souveräne und sehr sympathische Weitsicht ihrer Menschen. Sie ist ein Leuchtturm und geeignetes Vorbild für das Tessin und damit ein hervorragendes Anschauungsobjekt, ein starker Impuls und eine zielführende Orientierungshilfe für eine reflektierte Tessiner Tourismusstrategie.
Roland Voser, 25. Mai 2023
Inhalt.
2. Die wohlwollenden Deutschschweizer, der Teenager und die Deutschen, unsere Nachbarn im Norden.
3. Der Aargau und das Tessin sind Ausdruck von Napoleons Vernunft.
4. Die Schweiz war arm, viele Menschen bitterarm. Können wir dies überhaupt noch verstehen?
5. Komplexbeladene Kantone stehen sich selbst im Wege.
6. Die Schweizer Wohlstandstreiber der Boomjahre haben viel mit (Nicht-) Raumplanung zu tun.
7. Kathrin Rüegg betritt die Bühne.
9. Der Unterschied handelt von Hesse und Schmid und von Sinclair und Rüegg.
10. Wir möchten, dass ihr nicht unsere Gäste seid.
11. Wir haben es nicht erfunden, also ignorieren wir es.
12. Man mochte sie nicht, diese Kürbisköpfe aus dem Norden.
13. Man mochte sie nicht, diese Fremden.
15. Epilog: Fehlgeleitete Tourismus-Strategie mit nachhaltigen Konsequenzen für den Kanton Tessin.
1. Prolog.
Wir suchen für unsere Artikel jeweils ein Bild aus dem Fundus unserer eigenen Tessiner Fotos. Bei diesem Artikel erlebten wir einen kleinen Glücksfall, wie ich meine: Das Bild von 2018 zeigt eine Breitling Super Constellation mit Begleitung, im Flug entlang der Denti Della Vecchia im Sottoceneri. Ein schönes Sinnbild, finden Sie nicht? Genauso symbolträchtig der obige Titel “Zwischen uns die Berge”- wie jener vom gleichnamigen Film aus dem Jahre 1956 von Franz Schnyder, mit Hannes Schmidhauser in der Hauptrolle. Welcher Titel wäre passender zum Thema?
Die Superconny also, in der Rolle der Schweiz, fliegt mit einem kleinen Flieger, dem Tessin, unter ihren Fittichen nach Norden. Eine schöne symbolische Verbindung zwischen dem Norden und dem Süden. Mit dem bezeichnenden Detail, dass der Norden die aktive Rolle übernimmt und der Süden sich oft ziert oder gar etwas bockig tut.
Dabei mögen doch die Deutschschweizer das Tessin mit seiner wunderschönen Landschaft und seinen liebenswerten Menschen. Dennoch haben sie es aber oft mit einem etwas zickigen Teenager zu tun, der die einnehmende Liebe nicht wirklich erwidern will. Ein gutes Bild, denn Emanzipation will als Begriff nicht so recht passen, weil er irgendwie zu sachlich und zu erwachsen erscheint.
2. Die wohlwollenden Deutschschweizer, der Teenager und die Deutschen, unsere Nachbarn im Norden.
Diese Distanzierung geschieht den Deutschschweizern auch ein wenig recht, denn so wie das Tessin die ihre, so verschmähten sie in gleicher Art die Liebe ihrer deutschen Nachbarn im Norden. Gut, das mag heute im Jahre 2023 nicht mehr gleich ausgeprägt sein, aber 1996 dürfte das wohl noch zugetroffen haben. Dabei weise ich auf das entscheidende Merkmal hin, dass nach jahrelanger kalter Schulter die Liebe der Deutschen zu den Schweizern zuerst erloschen ist und nicht etwa umgekehrt, wie die oft dummen Sprüche über den flapsig genannten “grossen Kanton im Norden” vermuten liessen.
So wurde der Boden für die Schweiz in der Europäischen Union steinig, dem 2010 noch lachenden Bundesrat blieb das Bündnerfleisch im Hals stecken und die ehemaligen Wohlgesinnten in Berlin liessen letztlich effektiv - wenn auch virtuell - die Steinbrücksche Kavallerie in die Schweiz reiten und walzten die dortigen Finanzindianer unter ständigem medialem Trommelfeuer regelrecht platt oder machten sie derart gefügig, dass in der Schweiz nun oft vorauseilender Gehorsam für die Erfüllung der Erwartungen Europas herrscht. Die Souveränität des kleinen Landes hat darunter bleibend gelitten.
Ein veritables Desaster an Machtdemonstration an einem Kleinstaat, das seine Fortsetzung in aufreibenden, endlosen und letztlich ergebnislosen Verhandlungen mit der EU fand und später, also heute, ein Deutschland präsentiert, das von talentfreien Fantasten einer nicht nur naivdummen, sondern schlicht gefährlichen Ampelvereinigung geführt wird. Die Aussichten? Katastrophal, europaweit, aber das ist ein anderes Thema.
Solche Zerwürfnisse mit deren Tragweiten wird es bei den Deutschschweizern und den Tessinern nie geben. Ich bin überzeugt, dass die Bande der Schweiz bestimmt nochmals 220 Jahren halten und ziemlich sicher jene der EU überleben werden. Die EU jedenfalls bestätigt je öfters je mehr diese Hypothese.
Fazit: Die Parallelen in den Beziehungen Tessin-Deutschweiz und Schweiz-Deutschland sind offensichtlich. Die Ausarbeitung von Chancen und Szenarien für ein neues Selbstverständnis des Tessins in der Schweiz und der Schweiz innerhalb Europa würde sich anbieten.
3. Der Aargau und das Tessin sind Ausdruck von Napoleons Vernunft.
Und da wären wir beim nötigen Ausgangspunkt, bei der Geschichte. Der Kanton Tessin - notabene Republik und Kanton Tessin, wie sich das Tessin selbst nennt - wurde im Jahre 1803 gegründet und stiess als vollwertiges Mitglied zur Eidgenossenschaft, und dies nach 300 Jahren der Untertanerei mit vielen Landvögten aus den alten Kantonen und in den Diensten fremder Herren.
Über Jahrhunderte war das Tessin ein armer Kanton - wer kennt sie nicht, die Geschichten über die Tessiner Buben, die von ihren Eltern in bitterster Armut weggegeben und als Kaminfegerjungen im grauen Mailand ihr weniges Brot hart verdienen mussten? Oder wenn die Emigration ganzer Dörfer nach Amerika oft der letzte Ausweg aus der Verzweiflung der Tessiner Bergtäler war?
Doch war das beispielsweise für den Kanton Aargau nicht auch gültig? Er, der ebenfalls 1803 aus dem Berner Untertanengebiet entlassen und aus vier unterschiedlichen Regionen - dem protestantischen Berner Aargau, dem römisch-katholischen Ostaargau, dem Freiamt und dem österreichischen Fricktal - ziemlich konfliktbeladen zusammengesetzt wurde. Ist er etwa besser dran, als der aus den helvetischen Kantonen Bellinzona und Lugano entstandene und damit erstmals vollwertige Kanton Tessin? Man muss es zugeben: Der französische Kaiser Napoleon wirkte hier durchaus aus Eigeninteressen nicht nur für beide Kantone positiv, sondern brachte die ganze Schweiz mit einer zukunftsfähigen Struktur und Vorbereitung der Vernunft mittels Mediationsakte auf den vielversprechenden Zukunftsweg.
Wenn auch den Schweizer Hitz- und Sturköpfen (da sind sich Aargauer und Tessiner durchaus gleich) diese Eigenschaft nicht immer am nächsten lag, hat sich der Vernunftscharakter im Rahmen der Tagsatzung weiterentwickelt. Die Vernunft hat bis heute Bestand und fand mit der Bundesverfassung von 1848 eine denkwürdige, geistvolle Grundlage für das zukünftige Erfolgsmodell Schweiz. Mitten im Herzen von Europa, dem zu oft und zu lange kriegsgeschüttelten Kontinent der letzten Jahrhunderte - in dessen Wirren die Schweiz aber stets verschont blieb. Das war also heute vor 175 Jahren. Vor 176 Jahren fand mit dem Sonderbundskrieg der letzte Krieg, ein Bürgerkrieg, auf Schweizer Boden statt.
Fazit: Die Schweiz und ihre Kantone können auf einen 175-jährigen Frieden zurückblicken. Die Gleichwertigkeit aller Kantone wurde vor 175 Jahren besiegelt und muss heute ausser Frage stehen. Dennoch so argumentierte Opferhaltung von Kantonen ist entgegen zu treten, denn sie kaschiert ihre wahren Probleme.
4. Die Schweiz war arm, viele Menschen bitterarm. Können wir dies überhaupt noch verstehen?
Sind wir uns eigentlich bewusst, aus welch ärmlichen Verhältnissen unsere in den Jahren während der beiden Weltkriege geborenen Eltern, Grosseltern und Urgrosseltern noch stammten und unter welchen Entbehrungen sie aufwuchsen? Können wir überhaupt richtig einordnen, wie unglaublich rasch dieses Wirtschaftswunder der 50iger-, 60iger- und 70iger-Jahre die breite Bevölkerung aus diesen äusserst einfachen Verhältnissen herausgeholt, ja regelrecht hinauskatapultiert und einen Wohlstand beschert hat, wie es die Menschheitsgeschichte noch nie erlebt hat?
Vor einem halben Menschenleben lernten wir damaligen Erstklässler im Aargau noch auf Schiefertafeln schreiben und trugen dabei oft gestrickte Unterhosen. Mein Grossvater arbeitete als Gleisbauer bei der SBB und hatte zuhause in Neuenhof noch ein Kühlein, Hühner und einige Kaninchen, damit die kinderreiche Familie über die Runden kam.
Dieses Spannungsfeld zwischen der Armut der Vergangenheit und dem Reichtum der Gegenwart lässt einem bei näherer Betrachtung fast den Kopf zerspringen, denn es zeigt die grosse Hoffnung und Hoffnungslosigkeit zugleich auf: Die Schweiz war vor noch nicht einmal 100 Jahren am gleichen Punkt, an dem die ehemaligen Kolonien in Afrika oder Südamerika möglicherweise heute sind oder vielleicht vor 25 Jahren schon längst waren.
Trotzdem schaffen es viele dieser Staaten nicht, sich - endlich - aus eigener Kraft aus ihrem Chaos zu befreien und ihre eigene Schweiz zu bauen. Denn gerade das wäre möglich, weil es die Schweiz und die europäischen Staaten im letzten Jahrhundert vorgemacht haben: Die Bevölkerung in Deutschland hatte 1945 - also vor nicht einmal 80 Jahren - nichts mehr. Kein Eigentum, kein Einkommen, keinen Staat, keine Sicherheit, keine Perspektive. Keine 25 Jahre später wurde Deutschland zum wirtschaftlichen Motor Europas. Dies alles war möglich, weil Energie, Rohstoffe und ausgeprägter, gemeinsamer Wille den Ländern in genügendem Masse zur Verfügung standen.
Übertreibe ich, wenn ich sage, dass die Oberschicht der Staaten der Dritten Welt so gesehen als Land “arm bleiben wollen”? Natürlich ist diese Aussage für die Bevölkerung äusserst zynisch, aber hatten unsere Urgrossväter nicht mit denselben Despoten zu kämpfen?
Oder auf die Schweiz übertragen, dass jeder Kanton selbst schuld ist, wenn er, in welcher Hinsicht auch immer, “arm” geblieben ist, herablassend behandelt oder sich “rückständig” fühlt? Nein, denn angesichts der Leistung unserer Väter und Grossväter gibt es keine Entschuldigung. Mir käme jedenfalls keine in den Sinn. Aber umso schlüssiger ist, dass Entwicklungshilfe für alles andere nützlich ist, nur nicht dafür, ein Land in die Selbständigkeit zu entwickeln. Aber auch das ist ein anderes Thema.
Fazit: Armut in der Vergangenheit ist keine Entschuldigung für die Versäumnisse der Gegenwart. Aufbruch bedeutet hier Bruch mit der Vergangenheit. Bestand soll haben, was tatsächlich wertvoll ist. Das gilt insbesondere für das Tessin mit seiner sprachlich-kulturellen Sonderstellung innerhalb der Schweiz.
5. Komplexbeladene Kantone stehen sich selbst im Wege.
Nun gut, wieso vergleiche ich also den Aargau mit dem Tessin? Weil sich beide Kantone, aus welchen Gründen auch immer, offenbar mit ihren Minderwertigkeitskomplexen herumschlagen. Einmal mehr, einmal weniger.
Der Aargau als Atomkanton ist für die Schweiz dann gerade recht, wenn er Energie liefern, wenn dort günstigeres Wohneigentum in der Nähe von Zürich oder Basel gekauft oder wenn er als Transitkanton möglichst rasch durchquert werden soll.
Das Tessin hat Sonnenstube zu sein, und die Deutschschweizer fassen es geradezu als Beleidigung auf, wenn es dort einmal regnet. Solche Gemeinsamkeiten mögen verbinden.
Trotzdem erscheinen mir - als Aargauer - die in der Sendung von 1996 diskutierten Minderwertigkeitskomplexe der Tessiner etwas schräg, denn sie hätten ja grundsätzlich dieselben Möglichkeiten wie der Aargau gehabt, als sich dieser Kanton in den Boomjahren mit einer starken Wirtschaft etablierte. Sie hätten sich nicht in der Rolle der benachteiligten Südschweizer sehen müssen. Denn das stimmt einfach nicht. Sie wurden nicht benachteiligt, ausser sie liessen dies mit sich geschehen. Dasselbe mit der Klage wegen deutschschweizer Paternalismus: Auch hier muss sich ein Kanton erst bevormunden lassen, bevor andere Kantone ihn bevormunden können. Es ist eine Frage der Haltung und der Kommunikation. Man muss das Tessin in der Deutschschweiz verstehen. Das Tessin muss dazu Deutsch verstehen und sprechen oder in der Deutschschweiz seine Lobbyisten platziert haben.
Fazit: Kantone waren und sind ihres Glückes eigener Schmied. Ihre Werkzeuge und Möglichkeiten unterscheiden sich. Erfolgreiche Kantone können sie in Erfolgsfaktoren verwandeln und sollen diese breit kommunizieren. Dann werden sie verstanden und für voll genommen.
6. Die Schweizer Wohlstandstreiber der Boomjahre haben viel mit (Nicht-) Raumplanung zu tun.
Benachteiligung muss auch wirtschaftlich nicht sein. Denn Anfang des letzten Jahrhunderts traf sich die Intelligenzia und Kulturelite Europas oft im Tessin oder fand dort ihre neue Heimat. Auf dem Monte Verità trafen sich die Freigeister. In Locarno wurde 1925 europäische Friedenspolitik gemacht, Stresemann und Briand erhielten im Nachgang den Friedensnobelpreis. Der positive Friedenswille war also auch politisch mit der Südschweiz verbunden.
Was damals für einige galt, wurde in den Nachkriegsjahren und mit dem Wirtschaftswunder plötzlich für viele möglich. Ferien in Italien oder im Tessin hatten ihren Zauber, die Dämme der Sehnsucht nach dem Süden, auch nach dem Friedvollen, waren nach vielen Jahren der Entbehrungen gebrochen.
Für die Tessiner nicht nur zum Nachteil oder Vorteil, je nachdem, wie man es sehen will. Jedenfalls profitierten vom Bauboom, den Umzonungen und dem Immobilien-Verkauf an Deutsche und Deutschschweizer sehr viele Tessiner ausserordentlich gut. Dies war wohl ein schweizweites Phänomen, denn die Bauzonenverordnungen der 60iger-Jahre und folgende bescherten vielen einfachen Bauern plötzlich einen kleinen Reichtum.
Notabene sprechen wir hier im Tessin nicht nur von Hauptwohnsitzen, sondern insbesondere von sekundären Residenzen, die der Parahotellerie und damit dem Tourismussektor zuzuweisen sind. Vielen Tessinern war es wohl egal, was mit ihrer Landschaft passierte, die Baustoffausstellungen eingangs des Verzascatals zeugen beispielhaft davon. Bloss weg von diesem kargen Leben, diesen Steinhaufen aus Granit und der aussichtslosen Landwirtschaft in den steilen Tälern, mögen sich viele Tessiner gedacht haben.
Ich behaupte, dass der Kanton Tessin auf der Grundlage dieses, massgeblich durch Deutschschweizer oder Ausserkantonalen, verursachten Baubooms seinen Wohlstand begründete. Komplementiert durch Luganos Bankenplatz, der mit der Steuerflucht reicher Italiener sein sehr erfolgreiches Geschäftsmodell bis ins neue Jahrtausend betrieb und damit den Wohlstand des ganzen Kantons massgeblich mitschuf. Tourismus, Immobilien, Steuerflucht waren also die Zutaten des Tessiner Wohlstandes der 90iger-Jahre. Zum Preis von vielen Bausünden, wenig Nachhaltigkeit und bescheidener Freude an dieser Entwicklung.
Fazit: Wohlstand und Glück sind nicht zufällig. Es braucht dazu die richtigen Zutaten. Der Kanton Tessin verfügt über eine der schönsten Landschaften der Schweiz und mit der Italianità eine nicht kopierbare Erfolgsposition innerhalb der Schweiz. Diese kann in Wert gewandelt werden.
7. Kathrin Rüegg betritt die Bühne.
Und jetzt kommt tatsächlich eine Deutschschweizerin - Kathrin Rüegg - aus ihrer in den 70igern aussteigermässig gewählten Versenkung des Verzascatals, wird international sichtbar, ja bei einem Millionenpublikum aus Büchern und Fernsehen berühmt und zeigt auf dem Zenith ihres alternativen Zweitkarrierenhöhepunkts den Tessinern, was man aus ihren armen Talschaften Grossartiges gewinnen könnte. Wie man aus der Opferrolle herauskommen, tatsächlich gutes Geld mit den eigenen im Tal vorhandenen Ressourcen und Möglichkeiten schaffen und proaktiv die elenden Armutsjahre auch geistig überwinden könnte. Wie man eine ehrliche und positive Entwicklung des Tessins mit dem Herzen auf dem rechten Fleck ermöglichen könnte.
Wie man Menschen in der Seele ansprechen und im Herz begeistern kann. Wie man äusserst erfolgreich wirtschaftlich eine Landschaft und Landwirtschaft an die Frau und den Mann im ganzen deutschsprachigen Europa bringen kann, notabene mit dem Grundgedanken nach dem Einklang mit der Natur, mit den Tieren, den Menschen und dem Tal.
Wie man nicht nur die Sehnsucht nach dem anderen Licht des Himmels und den grünen Wassern der Berge, sondern auch nach dem einfachen Leben der Täler wecken kann.
Wie man Gäste gewinnen und neue Freunde finden und sie alle glücklich machen könnte. Wie man nicht nur karge grüne Nachhaltigkeit entwickeln könnte, sondern in allen für den Kanton relevanten Belangen zu einer souveränen Stimme in der Schweiz werden und die eigenen Interessen auf Augenhöhe in Bern einbringen, vertreten und durchsetzen könnte.
Fazit: Man muss nicht alles selbst erfinden. Aber gut Kopieren ist das Mindeste. Ignoranz jedoch das Sträflichste.
8. Es hat nicht sollen sein.
Aber es war den Tessinern so nicht recht. Nicht gut genug.
Ticino Turismo und die grossen Wortführer im Tessin halten sich mit einfältigen Boccalini-Diskussionen auf und suchen als Ausweg eine vielmehr elitäre Kultur. Sie hängen einem schöngeistigen “Ticino: Terra d’artisti” nach: Das Tessin wohl für einige Wenige. Im Auftrag der Tessiner Regierung.
Natürlich hat auch mich gerade dieses stille Tessin immer ausserordentlich fasziniert: Das Wirken von Hermann Hesse in Montagnola hat mich oft leicht schwermütig werden lassen, ob dieser grandiosen intellektuellen Kunst, die dieser Mann an diesem wunderbaren Ort, mit seinem speziellen Licht, festgehalten hat im Bild in seinen Aquarellen und im Wort in seinen literarischen Werken. Jener Stoff, den ich auf der Schwelle zum Erwachsenwerden so aufmerksam las und mich davon entführen liess, wie niemals mehr in meinem Leben. Mein Gott, mich schauert es heute noch ob seiner Rosshalde und seinem Demian!
Wer könnte also Marco Solari seine damalige Sehnsucht nach grossartiger Kultur und andächtigen Kulturinteressierten verübeln?
Fazit: Es gibt nicht einfach ein Richtig oder Falsch. Auch genügt nicht immer Koexistenz unterschiedlicher Ideen. Es geht nicht um das Durchsetzen der eigenen Vorstellungen, weil die Vorstellungen vielfältig sind. Einseitigkeit und Einfalt produzieren Frustration, weil sich nicht alle abgeholt fühlen. Im Tourismus ist dies verheerend, weil Tourismus auch ein gemeinsames Verständnis in der Bevölkerung haben muss.
9. Der Unterschied handelt von Hesse und Schmid und von Sinclair und Rüegg.
Doch wo ist der Unterschied zwischen der Smith Premier No. 4 Schreibmaschine von Hesse zur Hermes Baby von Kathrin Rüegg? War es, weil Hesse ein Mann und Kathrin eine Frau war? War es, weil Hesse ein Schweiz-Deutscher und Doris Schmid alias Kathrin Rüegg eine Schweizerdeutsche war? Es gibt ihn nicht, den Unterschied mit Relevanz.
Wer will aus touristischer Sicht Emil Sinclairs Werk (Hesses Pseudonym) nun als wertvoller einstufen als Doris Schmids Belletristik? Nicht, dass die einfach geschriebenen Tagebücher von Kathrin Rüegg nun mit Hesses Literatur verglichen werden sollen - sie sind beide grundverschieden, sehr eigenständig und betreffen ihre eigenen Sparten.
Doch aus der Sicht der Lesenden hatten beide sehr grossen Erfolg, und ist nicht dieser Applaus des Publikums für ein literarisches Werk letztlich entscheidend, sei es noch so leicht oder noch so schwer? Ist nicht ein Buch dann wirklich wertvoll, wenn es die Menschen bewegt? Ist eine Autorin nicht dann ausserordentlich erfolgreich, wenn sie ihre Lesenden im wahrsten Sinne des Wortes ins Verzascatal bewegt? Was wäre der Traum eines Tourismusdirektors? Die “Horden” aus dem Norden in Bussen in Locarno und den Tälern oder ein paar einsame Hesse-Bewegte im sehr schönen Kleinstmuseum, diesem hübschen Kleinod in Montagnola? In Schönheit sterben käme der Antwort wohl am nächsten. Tourismus ist kein Museum, es ist Unterhaltung und Entspannung für alle.
Fazit: Der Massstab ist und bleibt ausschliesslich der Applaus der Kunden. Ihre Bedürfnisse sind entscheidend. Können die Kundenbedürfnisse mit den eigenen Stärken optimal kombiniert werden, ergibt sich eine Erfolgsposition. Dies gilt auch für den Tourismus und für Kantone.
10. Wir möchten, dass ihr nicht unsere Gäste seid.
Das Tessin sollte also für niemanden Normalsterblichen das Feriendomizil sein? Das Tessin als Ghetto einiger exzentrischer Künstler, wie einst auf dem Monte Verità? Als Naturspinner wurden diese von den Einheimischen damals bezeichnet und nicht nur wegen ihrer fremden Sprache nie verstanden. Also keine Antwort für die vielen Menschen aus dem Norden, die ihre Ferien in ihrem Land, in der Südschweiz, im Tessin verbringen wollten?
Keine Antwort für die einfachen Menschen, die doch auch dieses einmalige Licht des Südens erblicken wollten. Diese Menschen, die sich auch dort ein wenig zuhause fühlten, weil es so viele von ihnen dorthin zog. Weil sich damals jede Schweizer Familie zuerst im Tessin Ferien leisten konnte und erst später dann in Italien oder in Übersee. Ist es erstaunlich, dass diese vielen Menschen aus dem Norden, weil von den Oberen ignoriert und damit unkoordiniert, im engen Kanton Tessin Probleme verursachten? Ist es nicht erstaunlich, dass die Kantonsregierung anscheinend nie den überfälligen Handlungsbedarf und dessen Tragweite erkannte?
Fazit: Elitäres Denken ist gefährlich, weil es ganze Bevölkerungsschichten ausgrenzt und einer Demokratie unwürdig ist. Spezialitäten Kultivieren macht andererseits den Unterschied und erzeugt einen Wettbewerbsvorteil, weil es über den Durchschnitt herausragt. Die Lösung liegt in der Kombination. Problematisch ist das Sich-selbst-überlassen unerwünschter Tourismusarten, weil diese sich unbegleitet entwickeln und sie so an sich kleine Probleme grösser werden lassen.
11. Wir haben es nicht erfunden, also ignorieren wir es.
Auch niemand der Tourismusverantwortlichen sprach zumindest bis 1996 mit Kathrin Rüegg. Weder die Verantwortlichen von Pro Verzasca im Tal noch die Spitzen des Tessiner Tourismus. Sie machten ihr Ding und wollen weiterhin das ihre tun, war der Tenor. Das Tessin ignorierte Kathrin Rüegg konsequent und tat es bis zu ihrem Tod im Juni 2011 in Gordola, Eingangs vom Verzascatal.
Rückblickend ist das verwunderlich, denn welche Kraft hätten sie miteinander entwickeln können, wenn sie alle an einem Strang gezogen hätten? Es war ein so grosses Unvermögen, dass es rückblickend tatsächlich schmerzt. Oder wie Marco Solari richtig bemerkte: “Es ist eine Schande.” Doch man möchte an ihn zurückfragen: “Wieso haben Sie keinen Kontakt mit Kathrin Rüegg gehabt?”
Diese Gefangenschaft im Kleinen, diese fehlenden Visionen der damaligen Tessiner Protagonisten, diese damit einhergehende permanente Nabelschau hatte - nicht weiter erstaunlich - folglich auch zu nichts wirklich Neuem geführt. Das Tessin ist heute so Sonnenstube wie damals. Die Emanzipation gegenüber Bern ist nicht vollzogen, die prosperierende wirtschaftliche Integration in die Metropolregion Lombardei hat nicht wirklich stattgefunden, die NEAT hat den Anschluss an Italien nicht durchschlagend geschafft, die Steuerformulare im Tessin gibt es immer noch nicht auf Deutsch, das Verkehrschaos mit den Grenzgängern ist und bleibt der tägliche normale Wahnsinn. Die richtig grosse Entwicklung hat im neuen Jahrtausend im Tessin nicht so stattgefunden, wie sie hätte stattfinden können, wenn für einmal die Tessiner den Deutschweizern die Hand gereicht und sie miteinander Grossartiges geschaffen hätten.
Fazit: Selbstzentrierung verhindert Innovation und Prosperität. Der Kanton Tessin hat bestimmt Vieles gut gemacht. Gleichzeitig hat er grosse Chancen gerade im nationalen Kontext vorüber ziehen lassen.
12. Man mochte sie nicht, diese Kürbisköpfe aus dem Norden.
So haben Kathrin Rüegg nur die einfachen Leute im Tal schätzen gelernt, wenn sie als Feuerwehrkommandant amtete, wenn sie alle Schafe der Talschaft überwinterte, wenn sie sich auf ihre eigenen Kosten einbrachte und viele von ihr profitieren konnten. So wie damals das Hotel-Restaurant in Gerra, das heute als Flüchtlingsunterkunft genützt wird, wie viele andere Hotels im Tessin (und im Aargau) auch. Eine traurige Entwicklung.
Die Tessiner bezeichneten halt, zumindest hinter vorgehaltener Hand, die Deutschschweizer als Barbaren, Horden des Nordens und Zücchin (vom italienischen „zucca“ bzw. Kürbis, weil sie als etwas sturere, dickköpfigere Landsleute gelten).
Eigentlich doch ohne Grund, denn die Deutschschweizer und die vielen anderen Touristen brachten den Wohlstand, bauten Autobahnen, schafften mit der NEAT eine Jahrtausendnordsüdverbindung ins Tessin, ermöglichten die Universität Lugano, finanzieren mit viel Goodwill seit Jahrzehnten ein überdimensioniertes Tessiner Radio und Fernsehen und so weiter und so fort.
Die Abneigungen im letzten Jahrtausend nahmen zum Teil groteske Züge an: Die Autobahn von Bellinzona nach Locarno verschmähten die Tessiner in einer Abstimmung aus vorgeschobenen Gründen regelrecht, obwohl damals der Bund mehrheitlich die Kosten getragen und damit das elende Verkehrschaos durch die Dörfer der Magadinoebene ein für alle mal gelöst hätte.
Fazit: Eigenbrötlerei war massgebende Ursache für die verpassten Chancen. Es stellt sich tatsächlich die Frage, wie die italienische Schweiz besser in die übrige Schweiz eingebunden und ihr eine zusätzlich Nutzen stiftende gesamtschweizerische Rolle zugedacht werden könnte.
13. Man mochte sie nicht, diese Fremden.
Dann kamen sie, die Touristen von Kathrin Rüegg. Eigentlich ein schönes Problem, oder nicht? Man musste jetzt nur noch gute Gastgeber sein. Den Verkehr leiten, ansprechende Wanderwege bieten, gute Informationen und Guidance bereitstellen, preiswerte Hotels und freundliche Bedienung in feinen Restaurants organisieren. Aber auch das schafften die Tessiner nicht recht. Es war ihnen irgendwie zu viel. Es war nicht die Regel. Wäre ihnen mit ein wenig Beflissenheit tatsächlich ein Zacken aus der Krone gefallen? Also doch selbstverschuldetes Schicksal? Pauschal waren sie einfach nicht wirklich herzliche Gastgeber. Wie auch, wenn man seine Gäste nicht mochte. Und wenn doch, dann stand oft ein Deutschschweizer dahinter, ein Tessiner Geschäftsmann mit Weitblick oder ein grossartiger Tessiner Entertainer.
Da schrieb Pro Verzasca verklauseliert zu Kathrin Rüegg: “Wir müssen die Würde des Verzascatals und des Verzascavolkes bewahren, die durch die Arroganz zu vieler Personen verunglimpft werden, die, als Touristen verkleidet, die Einfachheit der Bräuche und die Zurückhaltung der Menschen mit der Akzeptanz von Missbräuchen verwechseln, die leider im Namen des Rechts des Stärkeren ausgeübt werden. Diese Rede richtet sich auch an diejenigen, die auf verschleierte Art und Weise, immer gewürzt mit viel unnatürlicher Höflichkeit, den wahren Charakter unseres Tals und seiner Bewohner entstellen und sie zum Gegenstand frivoler Erzählungen machen.”
Was ging in diesen Leuten aus diesem Verein bloss vor? Fehlten hier die weitblickenden Menschen, die die Vereinsoptik zurechtrücken und sie weg von dieser Peinlichkeit wieder auf den Boden der Realität holen konnten? Derselbe Verein, der sich für das einheimische Handwerk mit Wolle und Traditionen stark machte, jedoch seine Schafswolle aus Australien importierte, weil die eigene Wolle anscheinend nicht qualitativ gut genug gewesen sei.
Im Gegensatz zu Kathrin Rüegg, die “nostrano” Produkte ihren Kundinnen anbieten wollte, dies auch tat und folglich keine Ware aus dem unvernünftig weit weg liegenden Australien importierte.
Welch riesige Chance verpasste damals das Tessin bloss? Wieso konnte das Tessin nicht über seinen Schatten springen? Gerade, wenn man dem Marketingexperten zuhört, der meinte: “Gäbe es Kathrin Rüegg nicht, man müsste sie erfinden!”
Fazit: Das Tessin benötigt einen visionären Ansatz. Dazu ist ein Beirat zur Politik erforderlich, der mit dem nötigen Weitblick die Zukunft des Kantons und damit des Tourismus skizzieren kann und gleichzeitig den Respekt der Bevölkerung hat.
14. Und heute?
Wir leben nun seit 25 Jahren vorwiegend im Tessin, und vieles hat sich in dieser Zeit verändert. Wir kamen also zwei Jahre nach dieser Fernsehsendung an. Ich erinnere mich an die Hilfbereitschaft des Gemeindearbeiters, als bei einem Gewitter unser grosser Kastanienbaum umstürzte und die Stromleitung herunterriss. Innerhalb kurzer Zeit räumte er für uns die Strasse wieder frei.
Als wir mit den Behörden Schwierigkeiten hatten (willkürliche Einschätzung im ersten Jahr entgegen der ursprünglichen Angaben, über mehrere Jahre parallel offene Steuerrekurse mit entsprechender Rechtsunsicherheit, sehr nervenaufreibende Bauvorhaben, intransparente Gebäudeschätzungen), stellten wir rasch fest, dass dies auch unseren Tessiner Nachbarn passiert und sie mit denselben Unannehmlichkeiten wie wir zu kämpfen haben. Ich will damit nicht die Tessiner Behörden kritisieren, doch war das uns entgegenbrachte latente Misstrauen mit dem daraus entstehenden Rechtfertigungsbedarf äusserst mühsam. Ich hatte oft den Eindruck, dass die Tessiner Behörden sehr exakt arbeiten, möglicherweise gezielt den persönlichen Dialog mit Deutschschweizern vermeiden und damit sturen Paragraphen vor ihrer vernünftigen Erwägung den Vorzug geben. Weil im Tessin vieles zentralisiert ist, wirkt der Staat umso distanzierter, und seine Entscheide sind als Fremdsprachler oft nur schwer nachvollziehbar. Diese Erfahrungen sind auch der Grund, dass ich meinen Wohnsitz nach 8 Jahren zurück in den umgänglichen Kanton Aargau zurück verlegte und es war für uns keine Frage, dasselbe mit dem Firmendomizil zu tun.
Die Tessiner Handwerker bieten überdurchschnittliche Qualität, hohe Zuverlässigkeit und für Deutschschweizer vernünftige Preise. Ich finde, dass sie teilweise engagierter, verlässlicher, qualitativ besser und kompetenter arbeiten als ihre deutschschweizer Kollegen.
Qualität ist ein gutes Stichwort. Die Cantina Monti produziert seit Jahren ausgezeichnete Weine, und wir sind sehr gerne ihre Nachbarn, weil diese Menschen und Produkte Ausdruck eines Selbstverständnisses auf Augenhöhe sind. Ivo Monti und seine Tochter Sabrina sind herzliche Gastgeber, und ihre Cantina und ihr Produkte können wir gerne und bestens empfehlen. Es ist eine Oase der Freundlichkeit. Man findet sie hier. Diesen Artikel habe ich sehr gerne mit Fotos ihrer Cantina ergänzt.
Wir haben also unsere kleine Welt im Tessin mit Tessiner Freunden gefunden. Es ja so, dass alle froh sind, wenn sie nicht jeden Abend Boccalino-schwingend Feste feiern müssen, sondern alle einfach ihre Ruhe haben und machen können, was ihnen gerade passt. So gesehen passen wir Deutschschweizer perfekt in diese Gegend. Wir wollen ja alle hier unser eigenes Leben leben.
Wenn ich heute jeweils mit dem Zug nach Lugano komme und dann mit dem Bähnchen nach Bioggio reise, dann sehe ich Menschen, wie in Aarau, Zürich oder sonstwo in Europa auch. Das Bild des Tessins hat sich geändert, weil sich die Menschen geändert haben. Die Jungen haben dies einfach getan. Unbeschwert, und das ist gut so.
Fazit: In der eigenen kleinen Welt im Tessin macht man nicht schlechtere Erfahrungen als anderswo. Und wenn, dann liegt es möglicherweise an einem selbst.
15. Epilog: Fehlgeleitete Tourismus-Strategie mit nachhaltigen Konsequenzen für den Kanton Tessin.
Marco Solari meinte in den 70igern Folgendes: “Und ich bin mehr denn je überzeugt, dass die Identität des Tessins auch durch das künstlerische, vielleicht noch zu wenig erforschte Genie der Vergangenheit und der Gegenwart dieses Kantons bestimmt wird. Diesen Weg müssen wir mit dem Tourismus, und der Kanton verlangt es auch so, weitergehen. Tourismus und Kultur, zumindest hier bei uns, müssen sich unbedingt ergänzen und integrieren. Ich habe den Eindruck, meine Herren, und das sage ich Ihnen ganz offen, dass in bestimmten touristischen Kreisen eine Nostalgie nach den Zoccoli und Boccalini wieder auflebt. Das wäre meines Erachtens ein sehr schwerer und tragischer Fehler für unseren Kanton. Wenn man in unserem Umfeld aus rein kommerziellen Gründen und aus unmittelbarem Gewinnstreben wieder dazu übergehen würde, die Tourismuswerbung von diesen falschen Symbolen falscher, falscher Fröhlichkeit abhängig zu machen.”
Das von Marco Solari aufgezogene Verteidigungsdispositiv war jedoch unnötig, weil die Lösung viel näher lag. Die Lösung liegt in der Ergänzung. Das eine tun, das andere nicht lassen, ist die Weisheit dazu. In der schlauen Kombination von gut geleitetem und begleitetem Massentourismus und elitärem Kulturtourismus als Leuchttürme. Kein Abwehrkampf, sondern Aikido, wo die Kraft in eine gemeinsame Richtung gelenkt und geschickt kombiniert wird. Nicht destruktiv etwas verhindern, sondern konstruktiv etwas Grossartiges gemeinsam schaffen. So wie das Filmfestival in Locarno, das mit dem Filmvolk durchaus eine spezielle Klientel bedient, wo aber die abendlichen Vorführungen vorwiegend mit den (hoffentlich nicht mehr ungeliebten) Touristen gefüllt sind, die sich am Tage am Bad in der Maggia erfreuen. Stärken entwickeln, nicht Schwächen bekämpfen.
Im Jahre 1993 (drei Jahre vor dieser Sendung des Tessiner Fernsehens) veröffentlichte der Südwestfunk Baden-Baden die Dokumentation “Im Tal der grünen Wasser”. Das Buch zum Film schrieb Werner O. Feisst. Er führte auch Regie und war für die Produktion verantwortlich. Zusammen mit Kathrin Rüegg erzählte er vom Verzascatal und dem Tessin. Wir haben den Film aus dem Nachlass von Kathrin Rüegg digitalisiert und vor zwei Wochen als Transcript wieder für das Publikum zugänglich gemacht. Marco Solari wünschte sich damals einen nachhaltigen Tourismus. Heute morgen - also 30 Jahre nach der Erstveröffentlichung - haben wir den Kommentar “Wunderschön!” auf den Film erhalten. Was ist Nachhaltigkeit, wenn nicht das? Im gleichen Zug führe ich den zweiten Film aus dieser Reihe an: “Ein Fluss namens Tessin”. Er entstand im Jahre 1996 und dokumentiert Menschen und Land im Einzugsgebiet vom Tessin-Fluss und seinem eindrucksvollen Zuhause im italienischen Naturschutzpark “Parco Ticino”.
Was ist also das Erfolgsrezept für die Vermarktung des Tessins? Man nehme einen Süddeutschen, kombiniere ihn mit einer Schweizerdeutschen Wahltessinerin und lasse die beiden die Tessiner Landschaft mit seinen menschengemachten Sehenswürdigkeiten zu Vivaldis Musik betrachten. Man mache eine Fernsehsendung mit einem naheliegenden Thema - wie Kochen, das der Zielgruppe naheliegt und lasse den Dingen seinen Lauf. Übersetzt auf 2023 wäre das ein Social Media Kanal mit einem geeigneten Influenzerpaar.
Entscheidend wird aber das tatsächliche Touristenerlebnis: Vor Ort muss sich diese Herzlichkeit, Andacht und Grossartigkeit authentisch erfüllen. Dort fängt die Arbeit erst an. Es darf keine Enttäuschungen geben. Nicht Perfektionismus ist der Schlüssel, sondern Herzlichkeit und Sichkümmern. Die Menschen sind in den Ferien im Toleranzmode: Ihre Reizschwelle ist deutlich höher als in ihrem normalen Leben. Dennoch: Kein Tourist soll am Bahnhof herumirren. Kein Tourist soll im Stau stecken. Kein Tourist soll eine schlechte Unterkunft haben. Kein Tourist soll sich aufregen. Sind wir hier die letzten 30 Jahre einen Schritt weiter gekommen? Nicht wirklich, ist für das Tessin die rasche Antwort auf diese Frage.
Die grosse Herausforderung im Tourismus besteht darin, dass die Versprechen der Kommunikation auch tatsächlich eingelöst werden. Hier sind Ideen gefragt, die aus mühsamen Touristen willkommene Gäste machen, und zwar bereits ab jeder Grenze zur Südschweiz. Sie kennen bestimmt das Gefühl, wenn sie durch den Gotthard und dann in den Süden fahren. Es ist einmalig. Es ist der Eintritt in eine andere Welt. Beinahe paradiesisch. Man lässt die Sorgen zurück, und es beginnen Ferien, egal ob für Stunden oder Tage. Wieso hat Ticino Turismo nie dieses Gefühl zelebriert? Wieso genügt den Verantwortlichen im Tessin offenbar, dass die Touristen auch so kommen, egal, wie gut sie sich behandelt fühlen?
Für nahezu vollkommene Erfüllung steht beispielhaft das Unternehmen von Ivo Monti, seine Produkte lösen die Versprechen grossartig ein, und ihre jährlich neuen Jahrgänge erfüllen diese Sehnsucht nach wiederkehrender Beständigkeit in der Wärme des Südens, nach der die Menschen auf ihrem Weg nach Ausgleich und Inspiration im Tessin suchen. Wir erleben dieses Gefühl jedesmal, wenn wir in der Deutschschweiz eine Flasche Il canto della terra öffnen und in Anlehnung an Gustav Mahler das Lied der Tessiner Erde geniessen.
Die gleiche Saite hat Kathrin Rüegg in den Menschen mit ihrer Sehnsucht nach dem einfachen Leben angeschlagen. Nachhaltiger Tourismus ist, wenn aus der Sehnsucht der Menschen eine kleine, neue Passion wird. Es wird rückblickend klar, dass Kathrin Rüegg nicht so unterschiedlich zum Ansinnen von Marco Solari war. Es hätte bestens gepasst. Doch diese Chance hat das Tessin vertan, weil die Frau und ihr Wirken nicht seiner Norm entsprach.
Tourismus ist aber divers. Es gibt unterschiedliche Menschen und Bedürfnisse. Es gibt verschiedene Bevölkerungsgruppen, und die heisst man auf unterschiedliche Weise willkommen. Das hat die Diskussionsrunde gut erkannt. Diesen Plot, diese Grundhaltung bräuchte das Tessin auch heute noch. Wenn sie bei den Verantwortlichen verinnerlicht ist, dann ist sie umfangreicher für den ganzen Tourismus auf Kantonsebene auszugestalten. Damit würde sich möglicherweise auch eine Strategie für die wirtschaftliche Entwicklung des Kantons anbieten, die letztlich die Menschen im Tessin verstehen und mittragen könnten.
Sie könnte unter dem Titel “Zwischen uns die Berge, über uns die gemeinsame Sehnsucht.” segeln.
Welche Kraft könnte aus diesem Kanton hervorgehen! Die Schweiz könnte stolz sagen: “Das ist unser Tessin. Hier machen wir Ferien.”
Nur, was hat ein Deutschschweizer dazu schon zu sagen?
Möchten Sie sich zum Thema äussern? Dann melden Sie sich gerne bei uns.
Anhang
Sendung ERA E ORA - Zum Spannungsfeld Kathrin Rüegg und Tessin (aus dem Nachlass von Kathrin Rüegg).
Aus der Sendereihe "ERA E ORA" des Tessiner Fernsehens (TSI Televisione della Svizzera Italiana, heute RSI Radiotelevisione Svizzera) zum Phänomen Kathrin Rüegg und dem daraus entstandenen Spannungsfeld zum Tessin, dem italienischsprachigen Süden der Schweiz, dessen unnötigen Minderwertigkeitskomplexen und seinen Protagonisten aus Kultur, Tourismus, Behörden und Bevölkerung.
Eingeführt durch den Dokumentarfilm von Vasco Dones "Verzascatal - ovvereo: quando il Nord scende a Sud (ma chi è 'sta Kathrin Rüegg?)" beziehungsweise in Deutsch "Verzascatal - oder: wenn der Norden in den Süden hinabsteigt (aber wer ist diese Kathrin Rüegg?)", produziert im November 1996.
Wir freuen uns ausserordentlich, dass wir an dieser Stelle den Dok-Film verlinken können. Wir danken Mirella Zen Gandolfi vom Tessiner Fernsehen (RSI) für ihre sehr unkomplizierte, freundliche und prompte Hilfe. Wir wünschen gute Unterhaltung.
Aus der treffenden Inhaltsangabe des Films: "Eines Tages verlässt Doris Schmid ihre Stadt im Norden und landet in einem kleinen Dorf in einem kleinen Tal im Süden: der Verzasca. Sie wechselt ihren Beruf (sie wird eine erfolgreiche Schriftstellerin, aber nicht nur das), ändert ihren Namen (sie wird Kathrin Rüegg) und wechselt das Tal (es wird zum Verzascatal). Unten im Süden kennt sie niemand (die, die sie kennen, ignorieren sie); oben im Norden hält man sie für die Verkörperung des warmen, süssen, glücklichen Südens."
Mit Auszügen aus einem Lugano-Werbefilm aus den 30igern (zum Klische der Deutschschweiz über den Tessin) sowie aus der Dokumentation "Filo di colore" (Archiv TSI - 1971). Die Ausstrahlung erfolgt 1996 im TSI. Die Digitalisierung erfolgte anhand einer im gleichen Jahr erstellten VHS-Kopie.
Personen im Dokumentarfilm:
Kathrin Rüegg (Doris Schmid), Schriftstellerin / Bäuerin / TV-Köchin, Gerra Verzsaca
Esterina Perozzi, Gastwirtin, Sonogno (Verzasca)
Ehepaar Lamprecht, Touristen, Baden-Baden (D)
Giancarlo Piemontesi, Direktor Verkehrsverein Verzasca
Olimpio Frolli, Bauer, Gerra Verzasca
Piorino, Esel, gekauft vom Erlös der ersten Auflage der ersten beiden Bücher
Angelo Scalmazzi, Gemeindeschreiber von Brione Verzasca
Paolo Dedini, Präsident Pro Verzasca
Ursula Heitz, Touristin und Freundin von Kathrin Rüegg
Personen in der Diskussionsrunde (ohne Kathrin Rüegg):
Gianni Delli Ponti, Moderation
Marco Solari, Präsident Tessiner Verkehrsverein bzw. Tourismusbüro
Beat Allenbach, Tessiner Korrespondent Tages-Anzeiger
Fritz Tschirren, Kreativdirektor, STZ Mailand
Hannes Schmidhauser, Schauspieler
Kurz Illi, Tourismusdirektor Stadt Luzern (Einschaltung)
Viviano Domenici, Bereichsleiter Wissenschaft, Corriere della Sera (Einschaltung)
Transcript Video der ganzen Sendung.
Einführung
00:00:22 | Off-Stimme [Einspieler, schweizerdeutsch]: Chasch of Lugano abe fahre, dänn liebe Fründ tue det nöt spare, gang abe of Piazza, lueg der de Platz ah ond die wenklige Gasse, trenk Wii us ere Tasse inere piccola Trattoria, dänn chonnt Tessiner Allegria!
00:00:40 | Moderator Gianni Delli Ponti: Guten Abend. Heute Abend sprechen wir von uns und von ihnen, vom Süden und vom Norden. Den Spot, den Sie gerade gesehen haben, wurde Anfang der 30er-Jahre in der Deutschschweiz produziert. Er fasst einen grossen Widerspruch zusammen: Einerseits zeigt er ein Bild vom Tessin, dass noch immer den Deutschschweizer Touristen gefällt, und andererseits zeigt er ein Bild der Tessiner, von dem sich diese in den letzten Jahren zu befreien versucht haben. So wie man sich von einem zu engen Kleid oder von einer zu engen Umarmung zu befreien versucht.
00:01:14 | Moderator Gianni Delli Ponti: Heute Abend erzählen wir die Geschichte von einer Frau aus der Deutschschweiz, die vom Norden in den Süden kam und ein Bild von hier erzählt hat, wie es uns selbst wohl nie es zu erzählen in den Sinn gekommen wäre. Was hat Kathrin Rüegg von der Südschweiz erzählt, das sie in der Deutschschweiz so berühmt machte und sie in der Südschweiz unbekannt bleiben liess, entdecken Sie im Film von Vasco Dones. Über diesen Film diskutieren wir heute Abend mit Marco Solari, Präsident Tessiner Verkehrsverein bzw. Tessiner Tourismusbüro, Beat Allenbach, seit 14 Jahren Tessiner Korrespondent des Tages-Anzeigers, Fritz Tschirren, Berner und seit 30 Jahren Kreativdirektor einer grossen Werbefirma (STZ Mailand) und Hannes Schmidhauser, ein bekannter Schauspieler, der unter anderem auch im Film «Zwischen uns die Berge» mitgespielt hat.
00:02:20 | Moderator Gianni Delli Ponti: Für die Zuschauer aus der deutschen Schweiz wird diese Sendung zeitgleich in deutscher Sprache, unter anderem mit der Stimme von Hannes Schmidhauser, ausgestrahlt. Bis später.
Dok-Film von Vasco Dones
00:02:32 | [Start Film]
00:02:49 | Vasco Dones, Reporter: «Um zu starten, eine Beobachtung: Im Kanton Tessin kennt praktisch niemand Kathrin Rüegg – können Sie das glauben?»
00:02:56 | Ehepaar Lamprecht, Touristen, Baden-Baden (D): «Nein, für uns ist das unvorstellbar, unglaublich.»
00:03:02 | Ehepaar Lamprecht, Touristen, Baden-Baden (D): Es ist unvorstellbar, dass ein Deutscher von Berlin, Hamburg, Köln oder Koblenz hierherkommt, um zu sehen, wo Kathrin Rüegg lebt und dann gleich wieder zurückfährt. Man sollte doch ein paar Tage hierbleiben und auch den Rest des Tessins anschauen.
00:03:27 | Ehepaar Lamprecht, Touristen, Baden-Baden (D): Man wird davon süchtig, das ist der richtige Ausdruck. Momentan wohnen wir in Porto Ronco und unsere Gastgeberin im Hotel hat gesagt: Wie seltsam, alle Deutschen fragen nach Kathrin Rüegg.
00:03:42 | Esterina Perozzi, Gastwirtin, Sonogno (Verzasca): Es kommen so viele Fremde, eine Lawine von Barbaren, wegen Kathrin Rüeggs Reklame.
00:03:55 | Angelo Scalmazzi, Gemeindeschreiber von Brione Verzasca: Der Deutsche, Holländer, Belgier, Engländer – das sind keine Marsianer, das sind Menschen wie wir.
00:04:08 | Ursula Heitz, Touristin und Freundin von Kathrin Rüegg: Leben und Lieben. Es ist einfach anders. Sobald man den Gotthard überquert hat, ist es meiner Meinung nach ein ganz anderes Leben.
00:04:31 | Giancarlo Piemontesi, Direktor Verkehrsverein Verzasca: Ich gestehe, dass ich kein einziges Buch von Kathrin Rüegg gelesen habe. Aber ich habe mich über ihre Bücher informiert.
00:04:39 | Paolo Dedini, Präsident Pro Verzasca: Zwischen der Associazione Pro Verzasca und Kathrin Rüegg gibt es keine Beziehung. D.h. wir machen unsere Arbeit und Kathrin Rüegg macht ihre Arbeit. Wir haben keinen Kontakt.
00:05:10 | Vasco Dones, Reporter: Das Val Verzasca ist also Kathrin Rüegg? Kathrin Rüegg und das Val Verzasca sind untrennbar?
00:05:13 | Ehepaar Lamprecht, Touristen, Baden-Baden (D): Ja, untrennbar. Sie gehören zusammen.
00:05:19 | Paolo Dedini, Präsident Pro Verzasca: Der Valverzascer hat das Gefühl, [von Kathrin Rüegg] in seinen tiefsten Gefühlen, seinen kulturellen Wurzeln geplündert worden zu sein.
00:05:28 | Kathrin Rüegg: Meine Bücher sind in erster Linie eine grosse Liebeserklärung.
00:05:52 | Vasco Dones, Reporter: Wie reagiert das Tal auf ihre Liebeserklärung?
00:05:55 | Kathrin Rüegg: Das Tal versteht sie nicht, weil es meine Bücher nicht lesen kann.
00:06:02 | Olimpio Frolli, Bauer, Gerra Verzasca: Ich habe nie auf Deutsch gelesen oder geschrieben. Sie hat mir erzählt, was drinsteht und es ist bestimmt interessant, aber ich habe es nie gelesen.
00:06:12 | Vasco Dones, Reporter: Und wer sind die Hauptfiguren in diesen Büchern?
00:06:14 | Olimpio Frolli, Bauer, Gerra Verzasca: Na, die Leute von hier, meine Schwester, der Boleta, einfach alle etwas.
00:06:25 | Vasco Dones, Reporter: Also, wie sehen Sie das – war das für das Tal gut oder eher nicht?
00:06:30 | Esterina Perozzi, Gastwirtin, Sonogno (Verzasca): Oh mein Gott, Ich kann das nicht beurteilen. Es ist schwierig.
00:07:06 | Kathrin Rüegg: Hier zu Hause bin ich Frau Schmid oder die Doris und wenn ich aus dem Haus bin, wenn ich meinen Job als Schriftstellerin mache, bin ich Frau Rüegg.
00:07:47 | Kathrin Rüegg: Hier sind die leeren Blätter, beschwert mit einem Stein, dass sie nicht wegfliegen, und hier sind die vollen Blätter, auch mit einem Stein belegt, dass sie nicht wegfliegen. Mehr ist nicht nötig.
00:08:00 | Esterina Perozzi, Gastwirtin, Sonogno (Verzasca): Es geht darum, den richtigen Moment zu packen. Doris ist die perfekte Macherin, eine Frau, die weiss, wie man es macht. Sie hatte in Basel ein Geschäft der oberen Klasse und irgendwann hat sie alles verkauft und ihr Leben verändert.
00:08:16 | Vasco Dones, Reporter: Es war Anfang der 1970er Jahre, als Frau Doris Schmidt, eine Geschäftsfrau, beschloss, den Luxus, die Hektik, die Luftverschmutzung und den grauen Nebel des städtischen Lebens im Norden aufzugeben, um in die fast unberührte Natur eines südlichen Tals, der Verzasca, einzutauchen und als Kathrin Rüegg, Schriftstellerin und Geschäftsfrau, wieder aufzutauchen.
00:08:38 | Vasco Dones, Reporter: Und warum haben sie beschlossen, ihr ersten Buch zu schreiben?
00:08:41 | Kathrin Rüegg: Ich musste Geld verdienen und Schreiben ist eine der Arbeiten, die man überall machen kann, ob in der Stadt oder auf einem Berg.
00:08:57 | Vasco Dones, Reporter: Schreiben, um Geld zu verdienen. Ein gewagtes Projekt, ein Traum. Und doch funktioniert es. Kathrin Rüegg, die elf, sagen wir elf Bände schreibt, die sich alle um das Verzascatal drehen. Bücher, die Millionen von Lesern im Norden verführen. Aber was zum Teufel hat sie wohl aus dem rauen Tal herausgepresst, um 2000 Seiten mit grossem Erfolg zu füllen?
00:09:19 | Kathrin Rüegg: Zum Beispiel wie wir nach Wasser gesucht haben und es nicht gefunden haben oder dass wir angefangen haben, einen Gemüsegarten anzulegen. Und all die Dinge, die mir mit meinen Katzen und Hunden passiert sind und dann all die Katastrophen, die Michelangelo mir angetan hat.
00:09:50 | Ehepaar Lamprecht, Touristen, Baden-Baden (D): Und wie es dann mit Wie-heisst-er-noch herausgekommen?
00:09:51 | Kathrin Rüegg: Michelangelo!
00:09:52 | Ehepaar Lamprecht, Touristen, Baden-Baden (D): Michelangelo!
00:09:53 | Kathrin Rüegg: Dann gibt es also ein Buch, das Sie nicht kennen.
00:09:55 | Ehepaar Lamprecht, Touristen, Baden-Baden (D): Ja, ich habe sie nicht alle gelesen - er hat so wenig Zeit, dass er nie lesen kann. Aber ich.
00:10:02 | Kathrin Rüegg: Michelangelo stürzte eines Tages, als er in Vallemaggia betrunken war, er über eine Brüstung.
00:10:11 | Ehepaar Lamprecht, Touristen, Baden-Baden (D): Er ist tot?
00:10:12 | Kathrin Rüegg: Ja, er ist tot.
00:10:14 | Vasco Dones, Reporter: Die Untaten von Michelangelo, die Schafe von Olimpio, der Duft von Heu, die Farben des Flusses, das Blau des Himmels und so weiter. Wenn die Autorin es uns erlaubt, könnten wir ihre 2000 Seiten in einem Satz zusammenfassen: «Oh, wie unglaublich schön, wenn auch anstrengend, ist einfache Leben in der schönen Natur dieses wunderbaren Tals, zusammen mit diesen freundlichen und glücklichen Einheimischen.»
00:10:40 | Kathrin Rüegg: Ich glaube nicht, dass es vorher schon jemanden gab, der über ihre Abenteuer schrieb. Im ersten Jahr mit Schafen, im zweiten Jahr hatte es auch eine Gruppe von Ziegen. Es gibt so viele interessante Dinge für jemanden, der sich für die Tiere und diese Arbeiten interessiert.
00:11:07 | Ehepaar Lamprecht, Touristen, Baden-Baden (D): Alle Besucher, die hierherkommen, um Katrin zu treffen, haben wahrscheinlich das gleiche Gefühl: Es ist der Wunsch, das Leben hier im Tal kennenzulernen und die Natur beim Wandern mit den Schafen zu erleben. Ich zum Beispiel habe jetzt eine andere Beziehung zu Schafen. Früher waren sie nur stinkende Tiere, die ich nicht ernst genommen habe, während es jetzt, wenn ich eine Schafherde sehe, etwas ganz anderes ist, etwas ganz anderes.
00:12:07 | Esterina Perozzi, Gastwirtin, Sonogno (Verzasca): Sie beschreibt auch unsere Leute auf eine etwas naive Art und Weise, wie wir alle brav und freundlich seien, ohne jegliche Probleme. Nach ihr ist alles leicht, so sehr, dass ich ihr auch schon gesagt habe: Aber Doris, es ist nicht alles rosig. Und sie hat mir geantwortet, es gibt im Leben schon genug Graues.
00:12:33 | Kathrin Rüegg: Diese Art des Schreibens ist wie eine Medizin, nicht eine Droge, aber eine Medizin für Menschen, die Depressionen haben, die im Krankenhaus sind, die leichte Unterhaltung benötigen, die etwas ohne Probleme lesen wollen, weil sie schon genug eigene Problemen haben und ich weiss, dass sie [die Bücher] für sie wie eine Medizin sind.
00:13:21 | Giancarlo Piemontesi, Direktor Verkehrsverein Verzasca: Über traurige Dinge schreiben zu müssen, hätte wahrscheinlich nicht zu dem Erfolg geführt, den ihre Bücher dank dieses fröhlichen Bildes gebracht hatten. Von diesem Traumbild, das sie dem Verzascatal gab.
00:13:44 | Vasco Dones, Reporter: Ein Tonikum?
00:13:45 | Ursula Heitz, Touristin und Freundin von Kathrin Rüegg: Ich sage immer, dass es für mich wie eine Salbe ist, eine Wundsalbe.
00:14.16 | Leute aus Car: Bruder und Schwester. Schön, nicht wahr?
00:14:40 | Giancarlo Piemontesi, Direktor Verkehrsverein Verzasca: Dieses Tal. Ich will nicht respektlos sein, aber ich denke, sie hat es in eine Art Heidi-Land verwandelt, wo alles schön und glücklich ist. Das Wetter ist schön, es hat viele Leute zum Träumen gebracht und daher dieses Interesse am Verzascatal.
00:14:59 | Esterina Perozzi, Gastwirtin, Sonogno (Verzasca): Vielleicht hat sie auch viele Illusionen geschaffen. Die grosse Rückkehr zur Natur in den 70er-Jahren. Da kam ein junger Mann und sagte, er würde gerne Bergbauer werden. Ich sagte: «Aber weisst du denn, was es heisst, Bauer zu sein? Das bedeutet, auf die 40-Stunden-Woche zu verzichten, auf die Ferien und viele andere Dinge. Und er sagte: «Aber die Tiere fressen von selbst?» - «Ja sicher, und du brauchst nur die Milch in den Kartons und den fertigen Käse auf der Weide einzusammeln.»
00:15:35 | Olimpio Frolli, Bauer, Gerra Verzasca: Und die Leute fragen: Wo ist diese Catherina Rüegg? Ihr Wohnhaus ist dort und der Laden hier unten.
00:15:45 | Vasco Dones, Reporter: [unverständlich]
00:15:47 | Olimpio Frolli, Bauer, Gerra Verzasca: [unverständlich]
00:16:05 | Vasco Dones, Reporter: Sie haben sich also selbst als Modell zur Verfügung gestellt?
00:16:07 | Olimpio Frolli, Bauer, Gerra Verzasca: Man hat mich oft fotografiert.
00:16:14 | Vasco Dones, Reporter: Und die Touristen waren also zufrieden?
00:16:17 | Olimpio Frolli, Bauer, Gerra Verzasca: Na, klar!
00:16:20 | Vasco Dones, Reporter: Und, haben Sie vielleicht sogar schon Wolle im Laden von Kathrin Rüegg gekauft?
00:16:24 | Ehepaar Lamprecht, Touristen, Baden-Baden (D): Nein, wir gehen jetzt noch nicht runter. Wir wollten erst mal hier hochkommen.
00:16:29 | Vasco Dones, Reporter: Haben Sie das Autogramm schon?
00:16:31 | Ehepaar Lamprecht, Touristen, Baden-Baden (D): Ja, das habe ich schon. Ich habe es bekommen, als sie in Baden-Baden Autogramme gegeben hat und ich war natürlich dabei.
00:16:41 | Vasco Dones, Reporter: «Leider können wir keine unangemeldeten Besucher empfangen. Wir stehen Ihnen aber in unserem Laden an der Hauptstrasse zur Verfügung.» Und ganz unten eine Warnung: «Warnung vor den Hunden.» Und wer das nicht versteht, der wird gebissen. Aber diejenigen, die hierher pilgern, verstehen es immer. Und überhaupt, heute sind die Hunde im Haus eingesperrt. Aus diesem Anlass beschliesst Kathrin, eine Ausnahme von der Regel zu machen. Sie steht den bewundernden, unangemeldeten Besuchern heute zur Verfügung. Es ist der Höhepunkt ihres Urlaubs in der Südschweiz.
00:17:15 | Kathrin Rüegg: Und ich gehe jetzt den Kaffee holen.
00:17:20 | Ehepaar Lamprecht, Touristen, Baden-Baden (D): Das ist nett von Ihnen und gerade heute habe ich meine Kamera vergessen. Ich könnte mich ohrfeigen. - Was ist? - Ich habe keine Kamera. - Da kann ich auch nichts machen.
00:17:58 | Kathrin Rüegg: Ich erinnere mich gut daran, als diese beiden Bücher herauskamen. Ich wollte mit diesen Büchern einen Esel und wenn möglich zwei Schafe kaufen. Ich erhielt nach den beiden Büchern nur einmal im Jahr meinen Lohn. Es waren 1600.- Franken. 1000.- Franken habe für den Esel ausgegeben und für zwei Milchschafe war kein Geld da, nur für zwei Lämmer, die je 300.- Franken kosteten. Und vielleicht hatte ich noch 80.- Franken vom Lohn der beiden Bücher übrig.
00:19:07 | Kathrin Rüegg: Ich weiss nicht, welche Ausgabe es jetzt ist - es ist die 15. Ausgabe und von diesen Büchern, wie sie hier sind, wurden nicht nur diese Ausgaben gedruckt, sondern auch eine halbe Million Reader's Digest.
00:19:52 | Ursula Heitz, Touristin und Freundin von Kathrin Rüegg: Verzasca und Doris, Doris und Verzasca sind ein und dasselbe.
00:19:59 | Paolo Dedini, Präsident Pro Verzasca: Der Valverzascer hat das Gefühl, in seinen tiefsten Gefühlen, seinen kulturellen Wurzeln geplündert worden zu sein.
00:20:07 | Angelo Scalmazzi, Gemeindeschreiber von Brione Verzasca: Wenn sie Bücher schreibt, bedeutet das, dass sie die Fähigkeit dazu hat. Sie hat die Bücher geschrieben, sie hat sie nicht von jemand anderem schreiben lassen. Sie musste die Ideen sammeln. Es sind also ihre eigenen Bücher. Sie hat ihre eigenen Geschichten, die sie mit sich herumträgt und die sie verkauft. Ich stimme also nicht zu. Ganz und gar nicht. Sie hat nichts gestohlen. Sie hat nicht die Identität des Tals gestohlen.
00:20:07 | Vasco Dones, Reporter: Hat Kathrin Rüegg die Identität des Valle Verzasca gestohlen, hat sie sie in ihren Büchern versteckt? Hat sie sie an als Touristen getarnte Hehlerbanden verkauft, die sich als Leser ausgegeben haben? Jedes Urteil wäre verfrüht. Sicher ist, dass die Fremde, die aus der Kälte kam, besser als jeder andere und besser als jeder Einheimische wusste, wie man die einfachen und bescheidenen Ressourcen eines rauen und wirtschaftlich armen Tals in Gold verwandeln kann. Und sie machte dies Millionen von Menschen bekannt. Kurzum, sie hat das Tal wertgeschätzt, argumentiert die Verteidigung, sie hat es geplündert, donnert die Anklage. Sie hat einfach Touristen angezogen, flüstert der Sachverständige.
00:21:21 | Kathrin Rüegg: Hmm? Ach, mein Gott, das deutsche Fernsehen hat angerufen. Sag ihnen, dass sie um 14.00 Uhr wieder anrufen sollen.
00:21:25 | Kathrin Rüegg und Werner O. Feisst: [Ausschnitt aus dem Film «Im Tal der grünen Wasser» vom SWF]
00:22:28 | Vasco Dones, Reporter: Also, das Schreiben von Büchern hat Ihnen nicht gereicht?
00:22:35 | Kathrin Rüegg: Nein, nein, nur Bücher zu schreiben, würde mir nicht gefallen. Ich brauche etwas von dieser Arbeit und manchmal eine andere Arbeit. Mit der einen Arbeit ruhe ich mich von der anderen aus.
00:22:50 | Vasco Dones, Reporter: Und dann entdeckte ich eines Tages dieses hölzerne Ding dort, mit diesem weissen Ding darauf. Was ist dieses weisse Ding?
00:22.58 | Kathrin Rüegg: Das ist Wolle. Das ist noch nicht gesponnene Wolle, die man später mit dem Spinnrad spinnt.
00:23:10 | Vasco Dones, Reporter: Und woher kommt die Wolle?
00:23:12 | Kathrin Rüegg: Es ist Nostrana-Wolle - von Schafen von Gerra Verzasca.
00:23:18 | Vasco Dones, Reporter: Halt! Lassen Sie uns einen Schritt zurückgehen. Damals, 1933, wurde ein Verein gegründet, der Verein Pro Verzasca, mit der Aufgabe, die Interessen und die Seele des Tals zu bewahren. Das bedeutete damals im Land des Elends vor allem die Organisation von Heim- und Handarbeit, also die Pflege von Schafen und Wolle.
00:23:41 | Paolo Dedini, Präsident Pro Verzasca: In den über 60 Jahren unserer Tätigkeit haben wir das Gefühl, natürlich ohne überheblich zu sein, dass wir ein wenig zu denen gehören, die eine Tradition aufgenommen haben und sie auch in den kommenden Jahren weiter bewahren werden.
00:24.02 | Vasco Dones, Reporter: Das Kunsthandwerk von Sonogno - einst blühte es am Eingang des Tals, in Gordola - wurde sozusagen von der Pro Verzasca, verpflanzt und scheint gut Fuss gefasst zu haben und kann heute, im Rahmen seiner Grenzen, als blühend bezeichnet werden.
00:24:21 | Vasco Dones, Reporter: Die Wolle stammt aus dem Tal?
00:24.22 | Paolo Dedini, Präsident Pro Verzasca: Nein, die Wolle ist nicht aus dem Tal, sie kommt aus Australien. Die Wolle. Ah, eine gemeine Frage! [lacht] - Die Wolle kommt also aus Australien und hat eine hohe Qualität. Unsere einheimische Wolle hat diese Qualität nicht, sie ist nicht lang genug, um behandelt zu werden, oder besser gesagt, um so behandelt zu werden, dass das Endprodukt echte Qualität garantieren kann.
00:25:10 | Kathrin Rüegg: Es ist Nostrana-Wolle von Gerra-Verzasca-Schafen. Die Touristin geht davon aus, dass das Material, das hier verkauft wird, auch ein Produkt von hier ist, sei es Wolle, sei es Marmelade, sei es Honig - was die Touristin auch immer will, sie erwartet, dass es von hier ist.
00:25:50 | Vasco Dones, Reporter: Von einer Hand zur anderen wird der Farbfaden immer länger. Jetzt treten die einsamen Strickerinnen mit ihren Stricknadeln, die Strickerinnen von Schals und von Pullovern auf den Plan. Geschätzte stille alte Frauen, die in ihrem Leben sicher schon Millionen von Maschen gestrickt haben und uns immer noch mit ihrer ruhigen Tätigkeit in Erstaunen versetzen. Sie werden von Touristen sogar fotografiert.
00:26:16 | Vasco Dones, Reporter: Versuchen wir, ein wenig aufzuräumen. Um den Touristen ein handwerkliches, reines, einheimisches Produkt anzubieten, kurz gesagt, einen Schal und einen Pullover, der einen zum Ausruf «typisch Verzascatal!» veranlasst, verlässt sich Kathrin, die Fremde, mit teutonischer Konsequenz, nur auf Schafe des Tals, welche - die Armen - nur mittelmässige Wolle geben, aber, Donnerwetter, eben nostrana ist! Auf der anderen Seite die Pro Verzasca, gegründet vor Ort, um die Interessen und die Seele des Tals zu verteidigen, die die einheimischen Schafe ignoriert und Wolle vom anderen Ende der Welt importiert, fast so, als wolle sie sich halb an Australien rächen, wohin Verzasca einst seine hungernden Kinder exportierte. Aber die Hände der lieben, schweigsamen alten Frauen, die spinnen und nähen, die sind einheimisch, indigen, «typisch Verzascatal»! Was soll also der Tourist, der auf der Suche nach dem wahrhaftigsten und authentischsten Souvenir ist, nun denken? Vielleicht, dass die Welt auch dort kompliziert ist, wo sie am einfachsten erscheint?
00:27:20 | Vasco Dones, Reporter: Dieses Gerät haben sie hier im Tal entdeckt?
00:27:25 | Kathrin Rüegg: Nein. Das habe ich geschenkt bekommen. Es kommt von einem Deutschen, der ursprünglich aus Russland stammt. Und das Modell muss russisch sein, aber es ist hässlich anzuschauen, aber es läuft gut und für mich ist das Wichtigste, dass es gut funktioniert. Nicht, dass es eine schöne Dekoration ist.
00:27:51 | Vasco Dones, Reporter: Und jene aus dem Tal?
00:27:53 | Kathrin Rüegg: Die aus dem Tal sind einfacher, aber zum Spinnen und vor allem zum Unterrichten sind sie nicht so gut geeignet, weil sie keine Kugellager haben. Ich weiss nicht, wie man Kugellager sagt.
00:28:14 | Vasco Dones, Reporter: Erstes edles Ziel, die Kunst des Wollspinnens von Hand zu verbreiten. Zweites hehres Ziel, damit einen vernünftigen Gewinn zu erzielen. Und so beschloss Doris oder Kathrin vor Jahren, ihren transalpinen Leserinnen Spinnkurse anzubieten. Ein paar Tage im Verzascatal mit dem Spinnrad, Kost und Logis, alles für 650 Franken. Ein weiterer kommerzieller Erfolg.
00:28:40 | Kathrin Rüegg: Es gibt Frauen, die seit fünf, sechs, sieben Jahren kommen, die jedes Jahr kommen, nicht nur um zu spinnen. Ich musste andere Kurse erfinden, denn sie wussten schliesslich, wie man spinnt und dann haben wir weitergemacht bis hin zum Brotbacken, zur Herstellung von hausgemachter Kosmetika, zum Weben und natürlich zum Färben. All diese Handwerke, die mit der Wollverarbeitung zusammenhängen.
00:29:16 | Kathrin Rüegg und Werner O. Feisst: [Ausschnitt aus dem Film «Im Tal der grünen Wasser» vom SWF]
00:30:28 | Vasco Dones, Reporter: Kommen Sie, meine Herren, eingelegter Käse, Postkarten, Honig, einheimische Wolle, verschiedene Marmeladen, eine Fülle von mit Kathrin Rüegg signierten Büchern. Elf Bücher über das Verzascatal und verschiedene mit Rezepten, Kräuter, Medizin, Grossmutters Heilmittel und so weiter. T-Shirts mit Schafen, eine grosse Auswahl an typischen Tassen, auch etwas kitschig, um ehrlich zu sein, und die Möglichkeit, sich für einen der verschiedenen Kurse über die Natur und die Traditionen des Verzascatals eintragen zu lassen.
00:31:06 | Vasco Dones, Reporter: All dies wird organisiert und angeboten von der Holding oder Aktiengesellschaft Kathrin Rüegg?
00:31:14 | Kathrin Rüegg: [lacht] Mir gefällt der Name der Holdinggesellschaft, und Sie sind der erste, der mir das gesagt hat. Ja, ja.
00:31:24 | Kathrin Rüegg: So, jetzt. Jetzt hast du wieder etwas zu verkaufen. - Oh, ich dachte, ich wäre schon fertig.
00:31:34 | Kathrin Rüegg: Spinnen, Weben, Wolle färben, Brot backen. Ich habe zum Beispiel dieses Jahr einen Kurs über mediterrane Meditationsküche gemacht, weil ich ein Buch mit diesen Rezepten vorbereitete.
00:32:02 | Vasco Dones, Reporter: Mediterrane Küche von Kathrin Rüegg, aus dem Herzen der Verzasca. Doch die Sehnsucht nach dem Süden schwappt über die Verzascer Berge, rollt von den Alpen bis zum Meer und überrollt wie eine Lawine Völker und Gerichte. Polenta wird zu valencianischer Paella, der Käse in Öl wird zu Caciotta, der Spiess tarnt sich als Souvlaki. Und schon droht ein türkischer Kebab. Diversifizierung des Angebots, Ausweitung der Märkte, Globalisierung der Wirtschaft und so weiter und so fort.
00:32:37 | Kathrin Rüegg: Mit dem Gotthard ist es wie mit einer Mauer, hinter der man alles Schlechte und Lästige zurücklassen kann. Und sobald man die Mauer passiert hat, ist man ein freier Mensch.
00:32:48 | [Lied]
00:32:49 | Vasco Dones, Reporter: Auf dem Zettel des Journalisten steht: Das Lied ist mexikanisch. Aber es schafft eine wunderbare Atmosphäre und ich liebe es.
00:33:45 | Ursula Heitz, Touristin und Freundin von Kathrin Rüegg: Letzten Freitag waren wir bei einem Grillfest in Sonogno und dann ist der Silvio, wie heisst er noch, der alte Mann? - Carletto - Und der Carletto hat so gut gesungen, dass es einem das Herz zerrissen hat. Und es war so schön, so authentisch, so einheimisch. Und dann haben sie uns eingeladen, mitzumachen. Es war schön, es fühlte sich gut an. Ich meine, ich fühle mich hier wirklich wohl. Wenn ich mir zu Hause die Decke auf den Kopf fällt, gehe ich weg und komme hierher.
00:34:16 | Kathrin Rüegg und Werner O. Feisst: [Ausschnitt aus dem Film «Im Tal der grünen Wasser» vom SWF]
00:35:03 | Vasco Dones, Reporter: Aus einer Veröffentlichung von Pro Verzasca: Wir müssen die Würde des Verzascatals und des Verzascavolkes bewahren, die durch die Arroganz zu vieler Personen verunglimpft wird, die, als Touristen verkleidet, die Einfachheit der Bräuche und die Zurückhaltung der Menschen mit der Akzeptanz von Missbräuchen verwechseln, die leider im Namen des Rechts des Stärkeren ausgeübt werden. Diese Rede richtet sich auch an diejenigen, die auf verschleierte Art und Weise, immer gewürzt mit viel unnatürlicher Höflichkeit, den wahren Charakter unseres Tals und seiner Bewohner entstellen und sie zum Gegenstand frivoler Erzählungen machen.
00:35:41 | Paolo Dedini, Präsident Pro Verzasca: Ich weiss von Mitarbeiterinnen, die seit vielen Jahren für Pro Verzasca arbeiten, dass es mit der Dame [Kathrin Rüegg] ein paar Reibereien mit unserem Verein gegeben hat, und seitdem gibt es keine Beziehungen mehr zu dieser Dame.
00:36:05 | Vasco Dones, Reporter: Es gibt Gerüchte über ein Rezeptbuch, d.h. jemand wirft ihnen vor, Rezepte für das Färben der Wolle aus einem Buch der Pro Verzasca kopiert zu haben.
00:36:20 | Kathrin Rüegg: Nein. Vielleicht ist es ein Rezept, das in verschiedenen Büchern steht. Aber es ist nicht so, dass ich es gestohlen habe. Ich brauche nicht zu stehlen.
00:36:37 | Vasco Dones, Reporter: In jedem kleinen Dorf, das etwas auf sich hält, flüstern die Leute vor der Kamera einheimische Gerüchte, die Anonymität verlangen, über zu erhebende Strafanzeigen. Hauptanklage gegen die Angeklagte, Doris Schmid: Handwerkliche Spionage, d.h. die vorübergehende Aneignung eines Rezeptbuchs für das Färben von Wolle mit Naturprodukten zu dem unerlaubten Zweck, die besagten Rezepte zu kopieren und in grossem Umfang mit unlauterem Gewinn weiterzuverkaufen. Es werden keine Beweise vorgelegt, aber die Geschworenen scheinen ihr Urteil in diesem Verfahren, das eindeutig ein Indizienprozess ist, bereits gefällt zu haben.
00:37:18 | Kathrin Rüegg: Ja, und wenn man das in unser Kohlprogramm aufnehmen würde? Ich meine, um beim Kohlprogramm zu bleiben, wie wäre es, wenn ich zeigen würde, wie man Sauerkraut macht?
00:37:29 | Vasco Dones, Reporter: Rezepte für Sauerkraut, mediterrane Küche, Heilkräuter, Grossmutters Woll- und Käserezepte und so weiter. Mit diesen Zutaten kocht Kathrin Rüegg seit Jahren und zusammen mit dem Regisseur Werner O. Feisst hat sie eine erfolgreiche vierzehntägige Sendung für einen deutschen Fernsehsender namens «Was die Grossmutter noch wusste» gemacht. Eine Sendung, die hie und da mit einem Hauch von Dolce Verzascatal gewürzt ist.
00:38:00 | Kathrin Rüegg und Werner O. Feisst: [Ausschnitt aus dem Film «Im Tal der grünen Wasser» vom SWF]
00:38:43 | Giancarlo Piemontesi, Direktor Verkehrsverein Verzasca: Die Tourismuswerbung muss, glaube ich, die Menschen zum Träumen bringen, sie muss die Gefühle der Menschen berühren, sie muss in uns Interessen wecken, die Lust, eine Region zu besuchen. Und ich glaube, das ist es, was Kathrin in ihren Büchern in Bezug auf das Tal getan hat.
00:39:12 | Angelo Scalmazzi, Gemeindeschreiber von Brione Verzasca: Hierin liegt die touristische Wirkung, das ist die Trumpfkarte und das ist der Einfallsreichtum eines Menschen. Es ist klar, dass dies natürlich Skepsis hervorruft und jemand sagt, dass sie ja gar nicht aus dem Tal ist. Aber das spielt doch keine Rolle. Wenn ein Japaner eine Sendung über das Verzascatal macht, soll ich dann sagen, dass es nicht geht, weil es ein Japaner getan hat? Das Wichtigste ist doch, dass der Tourist kommt.
00:40:32 | Vasco Dones, Reporter: Geliebt, akzeptiert, ignoriert, toleriert?
00:40:39 | Esterina Perozzi, Gastwirtin, Sonogno (Verzasca): Geliebt? Das glaube ich nicht. Vielleicht ist es einfach so, dass sie ihr Leben lebt und die Leute leben das ihre. Vielleicht wurde sie in den ersten Jahren mehr akzeptiert.
00:40:55 | Kathrin Rüegg: Ich glaube nicht, dass ich irgendetwas Schlechtes, etwas Falsches getan habe, denn ich habe den Eindruck, dass meine Liebe dem Tal eine Menge Vorteile bringt.
00:41:35 | Vasco Dones, Reporter: Verdammt, schon wieder ein Deutschschweizer. Oder mal wieder eine Deutschschweizerin, die hierherkommt und es versteht, was man mit unseren Sachen machen kann und wir können es nicht selbst.
00:41:47 | Paolo Dedini, Präsident Pro Verzasca: Aber vielleicht müssen wir hier ein wenig zu unseren Wurzeln zurückgehen, zu unserer Geschichte. Wir wurden immer von den Deutschschweizern von den Landvögten unterjocht und vielleicht tragen wir immer noch diesen Minderwertigkeitskomplex ihnen gegenüber in uns und wir sind nicht ... - Ich will überhaupt keine Opferrolle annehmen, aber vielleicht können wir uns in bestimmten Situationen tatsächlich fragen, wie kommt es, dass wir es nicht selbst hinkriegen?
00:41:47 | Olimpio Frolli, Bauer, Gerra Verzasca: Es gab immer Leute, die den Mund voll nahmen und sagten, wir machen dieses und jenes, aber sie haben nie etwas gemacht. Kathrin hingegen schon.
00:42:35 | Vasco Dones, Reporter: Das Tal war hier, der Fluss war hier.
00:42:47 | Esterina Perozzi, Gastwirtin, Sonogno (Verzasca): Das gab es.
00:42:38 | Vasco Dones, Reporter: Die schönen Rustici waren da.
00:42:40 | Esterina Perozzi, Gastwirtin, Sonogno (Verzasca): Die Tessiner haben im Ausland immer mehr Geld verdient als zu Hause. Nicht nur die Verzascesi, alle Tessiner.
00:42:48 | Paolo Dedini, Präsident Pro Verzasca: Es würde sich lohnen, ein wenig Bescheidenheit walten zu lassen und zu sagen, dass wir von anderen lernen. Es gibt immer etwas zu lernen.
00:42:54 | Vasco Dones, Reporter: Auch von Kathrin Rüegg?
00:42:56 | Paolo Dedini, Präsident Pro Verzasca: Auch von Kathrin Rüegg. Ja, klar.
00:42:59 | Vasco Dones, Reporter: Mit zusammengebissenen Zähnen?
00:43:00 | Paolo Dedini, Präsident Pro Verzasca: Nein, nein, ich kenne sie nicht einmal persönlich. [lacht]
00:43:30 [Ende Film]
Diskussion Teil 1
00:43:31 | Moderator Gianni Delli Ponti: Und so hat Frau Katrin Rüegg mit ihren Geschichten das raue und zerklüftete Verzascatal zum Schauplatz eines grossen Traums gemacht, einer Art glücklichen Insel, und trotz einiger Enttäuschungen seitens der Inselbewohner, hat sie 2.5 Millionen Exemplare ihrer Bücher verkauft. Sie haben richtig gehört: 2.5 Millionen Exemplare. Und sie hat Zehntausende von Touristen aus dem Norden auf die Insel gelockt, die ihre Geschichten kennen und schätzen, um sie, die Protagonisten, zu treffen und damit den Schauplatz dieses grossen Märchens. Marco Solari muss ich fragen: In der Redaktion ist die Frage aufgetaucht, warum sich der Tessiner Tourismusverband nie für Kathrin Rüegg interessiert hat. Hätte er sie nicht einstellen sollen?
00:44:14 | Marco Solari, Präsident Tessiner Verkehrsverein bzw. Tourismusbüro: Sie hat hervorragende Arbeit geleistet, und ich habe überhaupt keine Lust, Kathrin Rüegg anzugreifen, wie es andere getan haben. Kathrin Rüegg, deren Schriften eine Hymne der Liebe sind. Das haben wir ja jetzt in dem Interview gesehen. Eine Person, die Wärme und Freundlichkeit ausstrahlt. Hat sie das Tessin in ihren Büchern idealisiert? Ja, vielleicht. Warum auch nicht? Die Vereinigung Pro Verzasca wird doch sicher auch von denselben aufrichtigen Gefühlen angetrieben. Ich war überrascht, dass sie nicht miteinander reden. Deshalb kennen sie sich auch nicht.
00:44:54 | Moderator Gianni Delli Ponti: Warum?
00:44:55 | Marco Solari, Präsident Tessiner Verkehrsverein bzw. Tourismusbüro: Wer weiss, vielleicht schauen sie sich ja ein bisschen böse an. Schade, dass es diesen Dialog nicht gibt. Es ist vielmehr eine Schande. Ich denke, ein Dialog wäre der erste Schritt. Der erste Schritt, den man machen müsste. Natürlich, in dieser ganzen Sprache von Kathrin Rüegg ist vielleicht etwas Naives, etwas Idealisierendes, etwas, das der Deutsche mit Verniedlichung definiert, das ist dieses niedliche, niedliche, niedliche Tessin. Und da, wenn ich das so sagen darf, mache ich eine Anmerkung - oder vielleicht auch nur eine Beobachtung: Es besteht die Gefahr, dass die deutschschweizer paternalistische Sicht auf das Tessin noch vertieft wird. Dieser Paternalismus stört mich, nicht jener in den Texten von Kathrin Rüegg.
00:45:54 | Moderator Gianni Delli Ponti: Wir sprechen gleich über Paternalismus. Hannes Schmidhauser, ist geboren und aufgewachsen in der italienischen Schweiz. In den 50er-Jahren war er mit Liselotte Pulver im Schweizer Kino fast wie Clark Gable und Vivian Leigh im amerikanischen Kino. Ich möchte auf die Mikrogeschichte dieser Sendung eingehen, da ich der einzige Journalist bin, der sie nicht fragt: Warum hast du nicht geheiratet?
00:45:19 | Hannes Schmidhauser, Schauspieler: Bravo. Dafür haben Sie schon einen Panettone verdient.
00:46:22 | Moderator Gianni Delli Ponti: Sie sind ein Schauspieler, sie verdanken ihr Glück einer Figur, die Sie gespielt haben. Die Leute sind ins Kino gekommen, um Sie Ueli spielen zu sehen, aber hat die Dame [Kathrin Rüegg] nicht dasselbe getan, indem sie ein ganzes Tal spielen liess?
00:46:37 | Hannes Schmidhauser, Schauspieler: Ich weiss nicht, vielleicht ist es mein Beruf. Man hat mir eine Rolle angeboten, ich habe einen Emmentaler Bauern gespielt. Obwohl ich aus dem Tessin kam. Ich musste die Sprache schnell lernen, um sie richtig zu sprechen. Aber ich habe meine Arbeit gemacht. Sie hingegen ist ins Tessin gekommen und hat einen neuen Beruf gefunden. Sie hat angefangen zu schreiben. Und da kann ihr, glaube ich, niemand einen Vorwurf machen. Auch ein Tessiner kann in die französische Schweiz gehen, er kann nach Irland gehen, er kann an den Nordpol gehen und schreiben, wie er den Nordpol sieht, wie er Irland sieht, wie er es interpretiert. Er hat das Recht auf diese Freiheit, und das gilt auch für Kathrin Rüegg.
00:47:24 | Moderator Gianni Delli Ponti: Aber um auf die Anspielungen im Film zurückzukommen: Hat Kathrin Rüegg die Region ihrer Traditionen, ihrer Wurzeln beraubt oder vielmehr einen Weg aufgezeigt, wie man die alte Armut in eine Art Schatz verwandeln kann?
00:47:38 | Hannes Schmidhauser, Schauspieler: Ich glaube, sie hat diese Identität nie gefunden. Sie hat sie interpretiert, aber die Identität des Tals hat sie nicht verstanden, wie so viele, auch meine deutschen Schauspielerkollegen zum Beispiel, die im Sottoceneri leben. Ich kenne sie alle, aber wenn ich mit ihnen über das Tessin spreche, wissen sie sehr wenig darüber, obwohl sie seit vielen Jahren hier sind. Einer hat mir einmal gesagt, «wir behandeln die Leute hier wie normale Leute», das ist schon so, als würde man sagen, das sind minderwertige Geschöpfe, wissen Sie. Sie sind gut, weil sie sie wie andere behandeln. Ein sehr aussagekräftiges Beispiel: Vor vielen Jahren haben Deutsche in Lugano einen Film gemacht und der Regisseur fragte, «wo ist der Gondoliere?». Er wollte den Gondoliere und dieser musste «O sole mio» unter den Palmen singen. Das war die Denkweise dieser Leute über das Tessin, die von weit herkamen. Sie kennen also nicht immer unsere Identität, sie wissen sogar sehr wenig darüber.
00:48:40 | Moderator Gianni Delli Ponti: Beat Allenbach, Sie sind seit 14 Jahren Korrespondent im Kanton Tessin für den Tagesanzeiger. Aber ist es wahr, was Hannes Schmidhauser sagt? Stimmen Sie dem zu?
00:48:51 | Beat Allenbach, Tessiner Korrespondent Tages-Anzeiger: Zum Teil, ja, natürlich, das, was wir gesehen haben und das, was sie [Kathrin Rüegg] gemacht hat, ist, dass sie einen Teil eines Tales nimmt und sehr gekonnt inszeniert. Das macht sie wirklich sehr gut. Das ist ein Aspekt, der einer Sehnsucht von uns Deutschschweizern in Bezug auf den Süden entspricht. Wir haben seit langer Zeit eine grosse Sehnsucht nach dem Süden. Man könnte viele Schriftsteller zitieren. Dieses Bild des Südens, des Lichtes, das anders ist, das findet sich auch im Valle Verzasca. Aber die Leute, die in das Tal kommen, sehen nicht nur das, was Kathrin Rüegg in ihren Büchern beschreibt, sondern sie werden noch etwas mehr sehen, auch den Staudamm, also den Stausee.
00:50:02 | Moderator Gianni Delli Ponti: Sie werden Realität sehen und nicht Fiktion.
00:50:04 | Beat Allenbach, Tessiner Korrespondent Tages-Anzeiger: Sie werden auch ein bisschen Realität sehen. Dann wird es einen gewissen Widerspruch geben, vielleicht werden sie in bestimmten Restaurants auch den Berner sehen, der Gerant ist und vielleicht die Kellnerin, die aus Slowenien kommt. Also wird das Bild, das vielleicht aus dem Buch des Glücks und der glücklichen Insel kommt, auch etwas relativiert.
00:50:33 | Moderator Gianni Delli Ponti: Ich frage mich, ob Kathrin Rüegg den gleichen Erfolg gehabt hätte, wenn sie auch das Bild mit dem Berner Restaurantbesitzer und der slowenischen Kellnerin vermarktet hätte. Aber darüber reden wir später. Fritz Tschirren ist Kreativdirektor einer Werbeagentur. Sie frage ich, was hat Kathrin Rüegg in Sachen Marketing gemacht?
00:50:56 | Fritz Tschirren, Kreativdirektor, STZ Mailand: Zuerst wollte ich etwas sagen, was mir aufgefallen ist, als ich den Film gesehen habe. Ich bin Deutschschweizer, also ich fürchte, ich spreche ein bisschen Italienisch wie Kathrin Rüegg, vielleicht bin ich ein bisschen besser gekleidet. Auf jeden Fall gilt mein Kompliment dem Dokumentarfilm, der sehr unterhaltsam ist und ich muss auch Frau Rüegg dafür mein Kompliment aussprechen. Wenn es sie nicht gäbe, müsste man sie erfinden.
00:51:35 | Moderator Gianni Delli Ponti: Diese Frage stelle ich Marco Solari: Hätte man Kathrin Rüegg nicht im Hinblick auf die Tourismusförderung berücksichtigen können?
00:51:41 | Marco Solari, Präsident Tessiner Verkehrsverein bzw. Tourismusbüro: Wir hatten damals andere Probleme, wir wollten auch weg von diesem Bild, das uns die Eisenbahnkultur aufgedrückt hatte, denn das war eindeutig nicht mehr das Tessin. Das Tessin hatte eine traurige Geschichte hinter sich, eine Geschichte des Elends, eine Geschichte des Schmerzes und der Opfer, die schon mit den Landvögten, dann mit der Auswanderung im 19. Jahrhundert begann. Erst mit dem Gotthardtunnel öffnete es sich ein wenig. Aber dieser Gotthardtunnel brachte auch das, was Virgilio Gilardoni die kulturelle Trivialität nannte, getrieben von dieser grossen Sehnsucht nach dem Süden, von der Beat Allenbach zu Recht sprach. Aber hier wurde es zu einem Land Shangri-La, ein Neapel gleich hinter den Bergen gemacht. Also diese grosse Sehnsucht nach Licht, nach der Helligkeit des Südens, der Freiheit, der Sonne. Denken Sie an Ibsen, die Sonne, die Sonne hat dazu geführt, dass diese Tessiner Realität, die letztlich etwas ganz anderes war, verzerrt wurde. Hier wurde dann dieses Bild ad usum turista geschaffen, mit all einer apokryphen Folklore, einer falschen Folklore, einer Folklore, die dann ein entwürdigendes Bild für diesen Kanton war. Dagegen haben wir uns gewehrt, denn dieses touristische Bild drohte damals auch als echtes Bild verkauft zu werden und uns damit auch politisch zu schaden.
00:53:26 | Moderator Gianni Delli Ponti: Lassen Sie uns einen Schritt zurückgehen. An diesem Punkt halte ich es für wichtig, da seit dieser Zeit 13 Jahre vergangen sind. Ich möchte an diese Zeit anknüpfen, indem ich Ihnen eine kurze Archivsequenz zeige, in der Marco Solari selbst zu sehen ist und die einen sehr guten Eindruck von dem Klima vermittelt, in dem man das Bild dieser Region damals verändern wollte.
00:53:45 | [Film aus dem Jahre 1983]
00:53:47 | Marco Solari, Präsident Tessiner Verkehrsverein bzw. Tourismusbüro: Und ich bin mehr denn je überzeugt, dass die Identität des Tessins auch durch das künstlerische, vielleicht noch zu wenig erforschte Genie der Vergangenheit und der Gegenwart dieses Kantons bestimmt wird. Diesen Weg müssen wir mit dem Tourismus, und der Kanton verlangt es auch so, weitergehen. Tourismus und Kultur, zumindest hier bei uns, müssen sich unbedingt ergänzen und integrieren. Ich habe den Eindruck, meine Herren, und das sage ich Ihnen ganz offen, dass in bestimmten touristischen Kreisen eine Nostalgie nach den Zoccoli und Boccalini wieder auflebt. Das wäre meines Erachtens ein sehr schwerer und tragischer Fehler für unseren Kanton. Wenn man in unserem Umfeld aus rein kommerziellen Gründen und aus unmittelbarem Gewinnstreben wieder dazu übergehen würde, die Tourismuswerbung von diesen falschen Symbolen falscher, falscher Fröhlichkeit abhängig zu machen.
00:54:46 | Moderator Gianni Delli Ponti: Herr Solari. Dreizehn Jahre sind vergangen. Sie haben vorhin teilweise die damaligen Beweggründe genannt.
00:54:52 | Marco Solari, Präsident Tessiner Verkehrsverein bzw. Tourismusbüro: Ich bin nachsichtiger geworden.
00:54:55 | Moderator Gianni Delli Ponti: Ja, ja, aber damals war es ein grosser Befreiungsschrei, der eher darauf abzielte, uns ein anderes Bild zu geben als das, das wir nicht mehr wollten.
00:55:04 | Marco Solari, Präsident Tessiner Verkehrsverein bzw. Tourismusbüro: Nein, nicht unbedingt. Diesem wieder einmal trivialisierenden und entwürdigenden Bild stellten wir das schöne Plakat von Orio Galli «Ticino: Terra d'artisti» gegenüber. Gerade um zu zeigen, dass wir von diesen Symbolen einer falschen Folklore für das Land wegkommen mussten. Aber 15 Jahre sind vergangen und die Dinge sind heute anders. Wir müssen nicht zu den Boccalini zurückkehren, aber wir müssen wissen, wie wir zwischen dem touristischen Bild und der Realität unterscheiden können.
00:56:00 | Moderator Gianni Delli Ponti: Einen Moment. Fritz Tschirren. In technischer Hinsicht - Was ist eigentlich der Hauptzweck der Imagepflege für eine Region? Geht es darum, den Touristen das zu bieten, was sie haben wollen oder darum, den Touristen das zu bieten, was sie lieben sollen?
00:56:16 | Fritz Tschirren, Kreativdirektor, STZ Mailand: Normalerweise erwartet man von einer funktionierenden Kommunikation, dass damit die Touristen kommen. Der Tourist, wie wir sehen, hängt ein bisschen von der Art des Touristen ab. Das ist die Frage, die man sich zuerst stellen muss, welche Art von Touristen wollen wir, aber vielleicht kann man sich nicht aussuchen, was man will. Wenn ich diese hier sehe, sind das nicht mein idealen Touristen, vielleicht hätte ich gerne einen jüngeren, schöneren, kulturell ...
00:56:51 | Moderator Gianni Delli Ponti: Motivierteren
00:56:52 | Fritz Tschirren, Kreativdirektor, STZ Mailand: Motivierteren, reicheren - auch nicht alles kann man machen. Kurz gesagt, die Palmen sind hier, die Grotti sind da. In Paris gibt es den Eifelturm und das Moulin Rouge. Es ist immer noch da, aber sie haben auch andere Dinge gemacht. Vielleicht kann man es mit der Zeit wirklich machen, aber ich würde den Boccalini nicht wegschmeissen. Es ist etwas, das man erwartet, zumindest das Publikum, das meiner Meinung nach jenes ist, das hier ins Tessin kommt. Dann fügen Sie einfach ein paar schöne Dinge hinzu, wir haben schöne Dinge, das Filmfestival in Locarno, Mario Botta, es gibt viele Dinge, dann fügen Sie sie einfach hinzu.
00:57:31 | Moderator Gianni Delli Ponti: Aber man hatte lange Zeit das Gefühl, dass das eine das andere ausschliesst. Das heisst, wenn das Bild des Tessins als Land der Künstler in den Vordergrund gestellt wurde, dann eindeutig als Ausschluss und nicht mehr als Ergänzung. Warum wollte das Tessin dieses Image loswerden? Erzählen Sie mir von Ihrer Beobachtung.
00:57:56 | Beat Allenbach, Tessiner Korrespondent Tages-Anzeiger: Aber ich denke, dass, wie Herr Solari gesagt hat, das Bild, das von einem Boccalini-Ticino kommt, ein bisschen reduziert ist. Natürlich sind sich die Tessiner bewusst, dass sie mehr zu bieten haben und so wollten sie ihren Gästen die Augen öffnen und ihnen die Kunst zeigen, die die Deutschschweizer so mögen: Die einfache, konkrete Architektur der kleinen Tessiner Dörfer aus Granit, die schlanken Glockentürme etc. Das hat eine Form, die dann auch von anderen Künstlern wie von Botta in einer modernen Art wiedergebracht wird. Ich denke jedoch, dass es immer Leute geben wird – wie der Erfolg von Kathrin Rüegg beweist - die kommen und nichts Tiefgründiges über das Tessin wissen wollen. Denn um das Tessin zu kennen, könnte man Plinio Martini lesen, der eine Einführung in ein Tal gibt. Aber sie wollen einfach die hübschesten Dinge sehen. Aber es gibt verschiedene Bevölkerungsschichten und die muss man auf unterschiedliche Weise willkommen heissen, ohne dass man hochmütig sein und eine Seite verachten darf.
00:59:56 | Marco Solari, Präsident Tessiner Verkehrsverein bzw. Tourismusbüro: Sie haben gefragt, warum das Tessin das Image der Boccalini loswerden wollte? Eine Antwort auf diese Frage, dass es eine Frage der Würde war. Dieses Image konnte nicht toleriert werden. Das Tessin ist nicht nur ein folkloristisches Anhängsel der übrigen Schweiz.
Einspieler mit Kurt Illi
01:00:16 | Moderator Gianni Delli Ponti: In diesem Studio hätten wir gerne noch einen anderen Gast gehabt, der, wie ich glaube, diametral anders denkt als Marco Solari und dessen Name Kurt Illi und Tourismusdirektor der Stadt Luzern ist. Aber das hat uns nicht davon abgehalten, ihn zu besuchen, um zu hören, was er zu sagen hat.
01:00.37 | Kurt Illi, Tourismusdirektor Stadt Luzern [Einspieler]: Guten Abend, zunächst einmal möchte ich mich bei Ihnen entschuldigen und sagen, dass es mir sehr leidtut. Ich wäre sehr gerne in Ihre Studios in Lugano gekommen, um an der Diskussion heute Abend teilzunehmen, aber ich bin zu einem grossen Kongress in Florida eingeladen, wo ich einmal mehr die Interessen der Stadt Luzern vertrete. Bitte entschuldigen Sie mich und ich vertraue auf Ihr Verständnis.
01:01:01 | Off-Stimme [Einspieler]: Japanische Hochzeit auf dem Schloss Meggenhorn. Es ist nun das zweitausendste japanische Paar, das einen Luzerner Ort wählt, um einen Moment zu erleben, der zu Hause eher banal erscheinen mag. Denn in Wirklichkeit sind die Japanerinnen und Japaner, die sich vor dem Beamten Lucien Arnese, heute im Ruhestand, das Ja-Wort geben, bereits verheiratet. Sie investieren 1500.- Franken, um Fotos für das Familienalbum zu überreichen, um die sie jeder beneiden wird, der sie kennt, vor allem, wenn Herr Curtis sich als Direktor des Fremdenverkehrsamtes von Luzern vorstellt, um die Zeremonie durchzuführen. Diese und andere originelle Initiativen haben dazu geführt, dass Luzern immer mehr asiatische Touristen anzieht: 28% aller Touristen im Vergleich zu den nur 2% in Lugano. Der Direktor des Tourismusbüros wirbt seit 15 Jahren unermüdlich um sie. Seit vielen Jahren reist Herr Illi durch den Fernen Osten, um ihnen die Kapellbrücke und die Folklore mit den Alpenhörnern zu verkaufen und wird von den lokalen Radio- und Fernsehstationen wie ein Star verfolgt. Nachdem es den Schock des Kapellbrückenfeuers überwunden hat, wirft Luzern, das voll von Touristen aus Fernost ist, nun einen Blick auf andere Regionen.
Kurt Illi, der hier zeigt, wie grossartig man im Vierwaldstädtersee schwimmen kann, hat ein Auge auf die arabischen Länder geworfen. Er hat den Scheichs ein unwiderstehliches Angebot gemacht. Er hat ihnen erfolgreich einen Urlaub in Luzern angeboten, mit drei Tagen Regengarantie.
01:02:38 | Off-Stimme [Einspieler]: Was kaufen Sie dem Tessin oder dem Image des Tessins am meisten ab?
01:02:44 | Kurt Illi, Tourismusdirektor Stadt Luzern [Einspieler]: Ich glaube das Boccalino, die Zoccoletti. Für mich ist es immer ein besonderes Vergnügen, nicht in irgendeinem Restaurant zu sitzen, sondern in einem Grotto einen Teller Risotto mit Pilzen essen zu können, begleitet von einem guten Tessiner Wein, der im Boccalino serviert wird. Denn dann weiss ich wirklich, wo ich bin. Ich weiss, dass ich für ein paar Stunden im Tessin bin.
01:03:09 | Off-Stimme [Einspieler]: Haben sie eine Frage an Marco Solari?
01:03:13 | Kurt Illi, Tourismusdirektor Stadt Luzern [Einspieler]: Doch, ja. Natürlich habe ich gehört, dass Marco Solari, wenn er könnte, den Boccalino gerne abschaffen würde, und ich glaube, das ist immer noch seine Absicht. Aber das würde mir sehr leid tun. Ich nutze also die Gelegenheit, Marco zu fragen, warum er die Boccalini aufgeben will, die doch eigentlich zum Tessin gehören? Wenn Marco Solari gute Gründe hat, werde ich sie natürlich gerne akzeptieren. Aber ich bin ein Konservativer. Ich glaube an den Erfolg der traditionellen Werte und der traditionellen Dinge auch in der Deutschschweiz. Und Boccalini gehört meiner Meinung nach wirklich zum Tessin.
Diskussion Teil 2
01:03:52 | Moderator Gianni Delli Ponti: Marco Solari, wir sind mit dieser Aussage, die Kurt Illi vorgestern gemacht hat, wieder am Anfang?
01:03:59 | Marco Solari, Präsident Tessiner Verkehrsverein bzw. Tourismusbüro: Sie zeigen, dass Kurt Illi das Tessin einfach nicht kennt. Für ihn ist Luzern und seine Stadt wie ein grosses Theater und Luzern ist für ihn die Wiege, um die sich alles dreht. Für mich hingegen hat das Tessin eine Seele. Ich habe den Eindruck, dass er das nicht begriffen hat.
01:04:31 | Moderator Gianni Delli Ponti: Aber die Seele, wenn wir über Tourismus und die Notwendigkeit von Tourismus sprechen – kann man die Seele in Geld umsetzen?
01:04:43 | Marco Solari, Präsident Tessiner Verkehrsverein bzw. Tourismusbüro: Es gibt eine Grenze, darüber hinaus ist es dann kulturelle Trivialität. Ich sage, es gibt eine Grenze. Das Tessin ist empfindlich. Ich glaube, dass wir dem Tessin keinen Tourismus aufzwingen können, das ist nicht richtig, das ist nicht zulässig.
01:05:04 | Moderator Gianni Delli Ponti: Beat Allenbach wollte etwas sagen?
01:05:06 | Beat Allenbach, Tessiner Korrespondent Tages-Anzeiger: Ich denke, man muss auch von der Tatsache ausgehen, dass das Tessin ein sehr kleiner Kanton mit nur 300.000 Einwohnern in der Nähe eines Landes mit 7 Millionen Einwohnern und mit einer anderen, der deutschen Sprache ist. So, dass die Gleichgewichte im Tessin wegen dieser Tatsache sehr leicht gestört werden. So muss man etwas aufpassen. Deshalb schätze ich die Haltung von Herrn Solari sehr, denn ich erinnere mich, dass vor zehn Jahren vor Ostern in den Zeitungen zum Beispiel geschrieben wurde, dass jetzt die Horden aus der Deutschschweiz kommen, was etwas verachtend war. Jetzt würden sie vielleicht froh sein, wenn sie kämen. Aber ich wollte damit nur sagen, dass ein Gleichgewicht im Tessin nur sehr schwer zu finden ist.
01:06:06 | Moderator Gianni Delli Ponti: Für das Tessin möchte ich Hannes Schmidhauser fragen, der, wie ich höre, in letzter Zeit fast zu einem Fürsprecher für den Kanton Tessin in der Deutschschweiz geworden ist. Wir haben von 28% japanische Touristen in Luzern und nur 2 Prozent im Kanton Tessin gehört. Glauben Sie, dass der Kanton Tessin eine Empfangskultur für Touristen hat, die ihn dazu bringen würde, 28% japanischen Tourismus zu akzeptieren? Sagen Sie es mir ganz offen.
01:06:32 | Hannes Schmidhauser, Schauspieler: Ich bin kein Spezialist für Tourismus. Da gibt es Marco Solari, der viel mehr weiss. Trotzdem ist das Tessin ein besonderer Ort, der wirklich in ganz Europa bekannt ist, vor allem während des ersten und zweiten Weltkrieges. Viele Künstler und Schriftsteller sind hierhergekommen und haben sogar über das Tessin geschrieben, wie Hermann Hesse, Remarque, auch andere, die hier gelebt haben. Viele Schauspieler, Komponisten und Maler haben in Ascona gelebt und so weiter, haben über das Tessin geschrieben. Nun glaube ich, dass sie das Tessin in Europa bekannt gemacht und nicht nur den Eindruck vermittelt haben, dass wir nur Holzschuhe oder Boccalini haben. Herrmann Hesse hat gesehen, dass es ein anderes Licht gibt. Sobald man draussen ist, ist man hier. Er hat gesehen, dass das Tessin anders ist. Es ist wahr, dass wir selbst hier unsere Qualitäten ein bisschen zu wenig erkennen. Am Locarno Festival zum Beispiel werden sie gesehen. Es kommen Leute aus Kiew, aus England und sie sagen, es sei das schönste Festival der Welt, denn man fühlt sich frei, man kann diskutieren. Es gibt eine Harmonie, eine Gelassenheit, eine gut organisierte Kompetenz, worüber uns die Deutschschweizer sofort beneiden. Sie wollen nicht, dass wir dieses Festival haben und versuchen, es uns wegzunehmen. Hier gibt es einen gewissen Antagonismus zwischen den Deutschschweizern und den Tessinern.
01.08.16 | Moderator Gianni Delli Ponti: Fritz Tschirren, ich weiss nicht, ob ich falsch liege, wenn ich sage, dass Sie sich ja als Kreativdirektor einer Werbekampagne in einer ähnlichen Situation befunden haben. In dem Wunsch, eine andere «Boccalinis zu löschen».
01:08:39 | Fritz Tschirren, Kreativdirektor, STZ Mailand: Wir haben vor ein paar Jahren eine kleine Kampagne gemacht, für den Staat Illinois, um den Europäern mitzuteilen, dass wenn sie nach Amerika gehen, sollen sie nicht nur nach New York besuchen, sondern auch nach Chicago. Bei Chicago kommt einem sofort nach Alfonso Capone, das Fleisch in den Sinn. Es gibt so viel zu entdecken. Wir haben zum Beispiel einen Werbespot gemacht, in dem man eine klassisches amerikanisches Riesenplätzli sieht. Und wir haben es darauf geschrieben: Das grösste Zentrum der Fleischverarbeitung der Welt. Ausserdem hat die Stadt über 50 Nobelpreisträger, und niemand wusste das, das heisst, sie wussten von dem Fleisch, aber sie wussten nicht einmal von Chicago selbst. Das ist ein wichtiges Thema. Nicht einmal die Einwohner von Chicago wussten, dass es so viele Nobelpreisräger gibt, und das sind die Sachen, die man mit der Werbung bekannt machen muss. Das ist das Wichtigste in einer Werbekampagne für den Tourismus, dass die Einheimischen glücklich sind, dass sie stolz sagen, wow, in was für einem schönen Land lebe ich, ich wusste nicht mal, dass wir 55 Nobelpreise haben. Ich meine, das ist sehr wichtig, also vielleicht macht Kathrin Rüegg das, aber viele sind hier nicht glücklich darüber, also vielleicht ist sie am Ende nicht so gut.
01:10:31 | Marco Solari, Präsident Tessiner Verkehrsverein bzw. Tourismusbüro: Aber ich glaube, dass wir endlich über die Boccalini hinausgehen müssen, die eine Erfindung der Zeit nach dem Gotthardtunnelbau sind, die es vorher in der Folklore nicht gab.
01:10:40 | Moderator Gianni Delli Ponti: Wir merkten, dass wir nicht mehr mit den Objekten, die wir verkaufen, identifizierbar sind.
01:10:52 | Marco Solari, Präsident Tessiner Verkehrsverein bzw. Tourismusbüro: Ich glaube, dass es eigentlich nicht traumatischer wäre, solange es ein Spiel bleibt, bis, ich wiederhole, dass Bocalini in einem bestimmten Moment die Realität des Tessins repräsentieren müsste. Das, was den paternalistischen Diskurs mit allem, was darauffolgte, ermöglichte, musste abgelehnt werden. Wenn es heute ein Spiel wird, dann sollten wir es als Spiel akzeptieren, so wie ich mir auch gewisse Feste vorstellen könnte, zum Beispiel um die Kamelienzeit herum in Locarno. Wenn der heutige Tourismus das Spiel dazu braucht, diese spielerische Komponente, dann ist das in Ordnung, und wenn wir das auch schaffen wollen, dann ist das in Ordnung, solange es einen Unterschied zwischen Spiel und Realität gibt.
01:11:57 | Moderator Gianni Delli Ponti: Im Juli dieses Jahres schrieb Elio Venturelli, der Direktor des Statistikbüros, diesen Satz in seinem Leitartikel. Tessiner Widersprüchlichkeiten war die Schlagzeile, über einen Tessin voller Widersprüche: «Was aus den statistischen Indikatoren hervorgeht, hat in mancher Hinsicht die Ambitionen und das typische Verhalten eines dynamischen tertiären Stadtkantons, während es in anderer Hinsicht das Bild eines deprimierten, marginalisierten, abhängigen und schizophrenen Kantons vermittelt.» Die Statistiken sind also durchwachsen. Um jedoch beim Thema Tourismus zu bleiben, sagen Sie, dass das Spiel gespielt werden kann. Kathrin Rüegg lehrt uns aber auch, dass es auch einen Weg gibt, Rückständigkeit zu veredeln, sie in eine gute Gelegenheit zu verwandeln, um zu erkennen, dass sie zum Teil Spiel sein kann, d.h. was uns nicht mehr gefällt, kann anderen gefallen. Der Regen in Luzern gefällt den Luzernen nicht, aber die Araber werden ihn wohl mögen.
01:13:00 | Marco Solari, Präsident Tessiner Verkehrsverein bzw. Tourismusbüro: Natürlich. Kathrin Rüegg hat die Sprache gefunden, um Millionen und Abermillionen von Menschen zu verzaubern und zum Träumen zu bringen. Es ist immer eine Frage der Sprache. Ich weiss, dieses Spannungsfeld ist eine schreckliche Herausforderung.
01:13:17 | Moderator Gianni Delli Ponti: Wenn Sie hier und jetzt nach dieser Diskussion entscheiden würden, welches Bild Sie von diesem Kanton geben würden, was würden Sie machen?
01:13:27 | Fritz Tschirren, Kreativdirektor, STZ Mailand: Ich würde eine Kampagne machen, in der man sieht, dass die Tessiner stolz auf ihren Kanton sind.
01:13:59 | Beat Allenbach, Tessiner Korrespondent Tages-Anzeiger: Vielleicht sollte man versuchen, das Bestehende zu valorisieren. Die Dame im Restaurant, die wir im Dokumentarfilm gesehen haben, hat gesagt, dass die Tessiner im Ausland kommerziell am besten waren. Das scheint mir ein bisschen wahr zu sein, denn einerseits hat Kathrin Rüegg versucht, dieses Image umzusetzen, dieses Image, kurz gesagt, hat sie verkauft, aber auch, zum Beispiel, wir haben vorhin über Wein gesprochen. Wein ist sehr valorisiert worden, auch von Deutschschweizern, die hierhergekommen sind. Sie haben alte Weinberge übernommen, sie haben sie in Ordnung gebracht und sie machen jetzt selbst Wein. Sie haben nie Probleme mit dem Verkauf, im Gegenteil, nein, und diese unternehmungslustigen Leute fehlen vielleicht ein bisschen im Tessin, wie Stefano Franscini schon gesagt hat, das ist es.
01:14:52 | Moderator Gianni Delli Ponti: Diese Dynamik, die entsteht, sollte zugelassen werden.
01:14:55 | Beat Allenbach, Tessiner Korrespondent Tages-Anzeiger: Wenn sie im Ausland sind, können sie ihre besten Eigenschaften entwickeln, weil sie nicht zu Hause sind.
01:15:01 | Marco Solari, Präsident Tessiner Verkehrsverein bzw. Tourismusbüro: Das heisst, wir müssen aus dem Komplex der untergeordneten Komplementarität unserer Wirtschaft herauskommen, wir müssen viel mehr Selbstvertrauen haben. Das Tessin ist unübertroffen, aber es kennt die Realität vielleicht nicht so gut, es hat einen kleinen Komplex, und wir haben die Mittel, wir haben alles, um da rauszukommen.
Einspieler mit Viviano Domenici
01:15:26 | Moderator Gianni Delli Ponti: Ich möchte noch einen Schritt weitergehen. In der Broschüre von St. Moritz ist die Heidi-Hütte abgebildet, also die Hütte, das Haus von Heidi. Das ist eine Hütte, die für den Film unter anderem des Fernsehens der italienischen Schweiz Mitte der 70iger-Jahre gemacht wurde. Es ist nicht einmal richtig, denn Heidi wohnte nicht in der Gegend von St. Moritz, sondern in der Gegend von Maienfeld. Warum erzähle ich Ihnen das? Weil ich Sie jetzt hören lassen möchte, was uns der Redakteur der Wissenschaftsseite des Corriere della Sera, Viviano Domenici, der auch ein grosser Reisender ist, vor zwei Jahren gesagt hat.
01:16:18 | Viviano Domenici, Bereichsleiter Wissenschaft, Corriere della Sera [Einspieler]: Das Reisen ist fast tot, denn wir reisen in der Hoffnung, dem zu begegnen, was wir bereits in unserem Kopf haben. In dem Moment, in dem wir aufbrechen. Dass die Reise schon heute virtuell ist. Alles, was wir sehen, wird von den Tourismusagenturen, den Hotels, den Eingeborenen, den Buschmännern, den Pygmäen vorbereitet. Vorbereitet, während sie auf die Ankunft des Reisenden warten.
01:16:46 | Moderator [Einspieler]: Geben Sie mir ein praktisches Beispiel. Sie, nun zurück aus Polynesien. Was haben Sie auf dem Weg dorthin erwartet? Und was haben Sie vor Ort entdeckt?
01:16:54 | Viviano Domenici, Bereichsleiter Wissenschaft, Corriere della Sera [Einspieler]: Nun, ich habe das Polynesien von den Postkarten erwartet, nämlich den weissen Strand, die Palmen, die schönen Mädchen. Das alles gibt es natürlich, aber es ist da, weil die Hotels, Hoteliers und Reiseveranstalter dafür sorgen, dass es da ist. Aber es ist auch wahr, dass nicht viel davon, von diesen Dingen, in der Realität existiert. Ein Beispiel für alle: Die Muscheln, die man auf Tahiti oder den Marquesas-Inseln findet, werden aus Hawaii importiert. Und so findet der glückliche Tourist die Muscheln. Schauen Sie, wie schön die Südseemuscheln sind. Sie werfen sie sogar an die Strände, damit der Kunde sie findet und zufrieden ist. Und so stellt sich heraus, dass die Blumen aus verschiedenen Teilen der Welt importiert werden, dass die berühmten duftenden Seifen Polynesiens von einem Konsul in Polynesien hergestellt werden, dem italienischen Konsul, der dort sein Konsulat hat. Nebenan befindet sich eine Fabrik für ausgezeichnete, aussergewöhnliche Seifen, die auf italienische Weise hergestellt werden. Man muss also den Mut haben, sich diesen Realitäten zu stellen, d.h. die Reise nicht wieder zu mystifizieren, zu sagen, dass es so ist, und ein paar Tage lang schlecht damit zu leben und dann zu sagen, na ja, lass uns herausfinden, was es wirklich ist.
Diskussion Teil 3
01:18:18 | Moderator Gianni Delli Ponti: Also, lässt sich die Wahrheit oder die Lüge besser verkaufen?
01:18:36 | Marco Solari, Präsident Tessiner Verkehrsverein bzw. Tourismusbüro: Wahrscheinlich wird sich das Pappmaché in gewissem Sinne noch mehr verkaufen. Wenn es bis zu einem gewissen Punkt notwendig ist, werden wir es schaffen, aber es gibt etwas in mir, das sich dagegen wendet, vielleicht bin ich schon mittendrin, vielleicht muss ich es den Jungen überlassen und an einem bestimmten Punkt möchte ich sagen, Nein, das mache ich nicht mit, das ist unser Land, ein Land der Berge, ein Land der Stille, ein Land der Härte, ein Land, von dem ich fast sagen möchte, dass es sich nicht für Pappmaché eignet. Hier gibt es etwas in mir, das sagt, Nein, Tourismus muss etwas anderes sein. Hier möchte ich fast diese Vision von Ihnen, Herr Tschirren, aufgreifen und sagen, wenn es ein schönes Land ist, dann liegt es an uns Tessinern, es zu verkaufen, aber es mit Aufrichtigkeit zu verkaufen, es mit Vertrauen zu verkaufen, aber auch eine ganze Kultur der Gastfreundschaft zu entwickeln, die Touristen gut zu behandeln und schliesslich sollten wir vielleicht das Pappmaché anderen überlassen.
01:19:45 | Hannes Schmidhauser, Schauspieler: Ich verstehe nicht, warum wir dieses Tessin unbedingt verkaufen müssen. Nein, ich verstehe es nicht. Ich finde es nicht richtig, aber lasst sie kommen und dann entdeckt man vielleicht das Heute. Es gab eine Zeit vor ein paar Jahren hier in der Gegend von Locarno, da wurde gesagt, es gibt fast zu viel Tourismus und es dennoch wurden Vorschläge gemacht, den Tourismus zu steigern. Ich habe gesagt, jetzt reicht es, wenn sie kommen und wirklich kommen, dann hätten wir eine Krise für Italien, aber ins Tessin kommen sie so oder so. Also der Diskurs ist mehr über das Falsche. Das Falsche gibt es seit Mozart usw. In Wien haben sie von der schönen blauen Donau gesungen. Geh hin und schau, die Donau ist gar nicht blau, aber Tausend Jahre lang ist sie so geflossen.
01:20:38 | Moderator Gianni Delli Ponti: Ja, aber ich sage, welchen Grund sollte jemand haben, eine Reise, ein Ticket, die Zeit, die er dort verbringen wird, zu kaufen, wenn nicht, um dorthin zu gehen und sich etwas vorzumachen?
01:20:48 | Hannes Schmidhauser, Schauspieler: Wir haben Attraktionen, die gut genug sind, um die Leute anzuziehen.
01:20:53 | Fritz Tschirren, Kreativdirektor, STZ Mailand: Über das Pappmaché und die Fälschung: Die meisten Ausländer denken, dass die Erfindung der Kuckucksuhr aus der Schweiz kommt, sogar Umberto Eco hat es einmal geschrieben, aber das ist absolut falsch, aber man kann nichts machen, wenn die Ausländer dort die Kuckucksuhr erfunden sehen wollen. So ist das eben in der Schweiz. Das reicht schon. Vielleicht tut es auch gar nicht so weh.
01:21:17 | Moderator Gianni Delli Ponti: Ja, aber wie sieht es mit der Qualität des Tessin aus? Herr Solari, was sollten wir von Frau Kathrin Rüegg lernen?
01:21:36 | Marco Solari, Präsident Tessiner Verkehrsverein bzw. Tourismusbüro: Ich nehme von Kathrin Rüegg ihre offene, aufrichtige, gute Art. Ich glaube von Beat Allenbach zu verstehen, dass er sagte, dass es eine gewisse Absicht gab. Nein, ich glaube nicht einmal, dass Kathrin Rüegg berechnend war, und unter diesem Gesichtspunkt muss man ihr wirklich die Absolution erteilen.
01:22:01 | Fritz Tschirren, Kreativdirektor, STZ Mailand: Sag wenigstens, sie hätte ein Tessiner Pseudonym wählen können, Ivana Ermini oder so.
01:22:07 | Marco Solari, Präsident Tessiner Verkehrsverein bzw. Tourismusbüro: Nein, eben nicht!
01:22.36 | Moderator Gianni Delli Ponti: Wenn Kathrin Rüegg das getan hätte, wenn das wie bei der Heidhütte, Heidi, wie bei so vielen anderen Dingen auf der Welt gewesen wäre, wenn das das Produkt einer Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem Fremdenverkehrsamt gewesen wäre - würden wir heute hier über einen Verrat sprechen oder über einen Erfolg nach all den Jahren?
01:22:50 | Marco Solari, Präsident Tessiner Verkehrsverein bzw. Tourismusbüro: Dann würden wir wahrscheinlich von einem kulturellen Verrat und von einem wirtschaftlichen Erfolg sprechen.
01:22:58 | Moderator Gianni Delli Ponti: Wollten Sie noch etwas sagen?
01:23:00 | Beat Allenbach, Tessiner Korrespondent Tages-Anzeiger: Ich denke, das Tessin muss sich anbieten, anstatt sich zu verkaufen. Sich anbieten bedeutet auch, die guten Seiten zu zeigen, die starken Seiten. Vielleicht sind die Tessiner darin noch nicht gut genug.
01:23:22 | Moderator Gianni Delli Ponti: Ich danke Ihnen allen sehr für die Teilnahme an der Diskussion. Abschliessen möchte ich aus aktuellem Anlass der Präsidentschaftswahlen mit einem Country Song aus den USA.
01:25:20 | [Ende]
Seit 2018 Chief Editor, Mitbegründer, Verwaltungsrat und Teilhaber von smartmyway, Autor, Coach, Mentor und Berater. Vorher als Geschäftsführer von Media Markt E-Commerce AG, Media Markt Basel AG, Microspot AG sowie in den Geschäftsleitungen von Interdiscount AG und NCR (Schweiz) AG tätig.
Experte für Digitalisierung, Digital-Business, Handel, Sales & Marketing, E-Commerce, Strategie, Geschäftsentwicklung, Transformationen, Turn Around, Innovation, Coaching, erneuerbare Energien, Medien, Professional Services, Category Management, Supply Chain Management