Porträt über Kathrin Rüegg von Christian Keller.

Basels berühmteste Aus­steigerin. Die Sehnsucht nach dem einfachen Leben. Ein Porträt von Christian Keller über Kathrin Rüegg.

Sehnsucht nach der Natur: 1971 wanderte die Laden­besitzerin ins Verzasca­tal aus. Nun erscheinen die Tage­bücher von Kathrin Rüegg neu. Eine Hommage an die Exil-Baslerin.

Christian Keller, 25. März 2020

Wer hat sie nicht schon empfunden, gerade jetzt, wo seit über einem Jahr ein heimtückisches Virus unser ganzes Leben mühsam auf den Kopf stellt: Diese starke Sehnsucht, alle Zelte abzubrechen, sich mit seinen sieben Sachen in ein Abenteurer-Schiff zu setzen und einfach fortzusegeln: zu neuen Ufern, in eine freie Welt ohne Verpflichtungen und Bürden.

Wir sprechen gerne über solche Träume, stossen darauf an, reden uns vielleicht sogar Mut zu, die verrückten Pläne umzusetzen – und doch bleibt es zeitlebens beim Ausbruch in Gedanken, während wir in der Realität brav unserem gewohnten Leben nachgehen.

Ausnahmen sind selten, umso mehr faszinieren und begeistern sie uns. Dafür steht die Geschichte von Doris Schmid (1930-2011), besser bekannt unter dem Künstlernamen Kathrin Rüegg. Ab den Siebzigerjahren erlangte sie, die von der Basler City in die Tessiner Wildnis ausgewandert war, mit ihren Aussteiger-Büchern und einer populären TV-Kochshow grosse Berühmtheit im deutschsprachigen Raum.

Vorbild für Emanzipation und Selbst­bestimmung

Ihre beeindruckende Biographie erfährt zurzeit eine Renaissance: So hat der Aargauer Kleinverlag «smartmyway» die Lizenzrechte an den insgesamt acht Tagebüchern von Kathrin Rüegg erworben und gibt diese in neuer Edition heraus. 

«Doris Schmid alias Kathrin Rüegg hat das gemacht, was viele Frauen zu jener Zeit nicht wagten: Sie nahm das Zepter selber in die Hand und verkörperte weibliche Selbstbestimmung und Emanzipation», sagt Verlagsmitinhaber Roland Voser.

Sein Name ist in Basel wohl einigen noch ein Begriff: So führte Voser von 2003 bis 2012 den Media Markt beim Bahnhof SBB und veranstaltete regelmässig Events, um die lokale Film- und Musikszene zu fördern. Inzwischen ist er Unternehmensberater und nebenbei, gemeinsam mit seinem Berufskollegen Maurizio Vogrig, auch Buchverleger.

«Die Tagebücher von Kathrin Rüegg bringen unglaublich viele positive Werte zum Ausdruck: Nachhaltigkeit, Bodenständigkeit, Gleichstellung – aber auch gutes Unternehmertum. Darum liegt mir dieses Projekt so am Herzen», sagt Voser gegenüber Prime News. 

Die Grundhaltungen, welche die umweltbewusste und naturverbundene Frau vertreten habe, seien in der heutigen Zeit nicht minder aktuell. «Alle reden vom Klimawandel und der Bedeutung des Klimaschutzes. Diese Überzeugung hat sie schon vor Jahrzehnten vorgelebt.»

Erfolgreiche Geschäfts­frau in Basel

Doch beginnen wir von vorne: Doris Schmid wird 1930 geboren und wächst in einer Bergbauern- und Hoteliersfamilie in Arosa auf. Mit ihrer geschiedenen Mutter und ihrem Bruder zieht sie 1941, während des Zweiten Weltkriegs, ans Rheinknie nach Basel.

1960 eröffnet die gebürtige Bündnerin dann an der Sternengasse 6 in der Aeschenvorstadt das Einrichtungs- und Dekorationsgeschäft «Bottewage». Die Gewerbetreibende gilt rasch als erfolgreiche Geschäftsfrau. Ihr Laden ist denn auch nach wie vor in wacher Erinnerung, wie Prime News im Zuge der Recherchen für diesen Artikel feststellen durfte.

So schrieb etwa ein User auf Facebook: «Der Werbeslogan hiess damals schlicht: Alli sage: Bottewage».

«Aber ich hatte genug!»

Die ledige und kinderlose Selfmade-Woman konnte mit dem Lauf der Dinge eigentlich äusserst zufrieden sein, und dennoch hatte sie irgendwann die Schnauze voll. Anfang der Siebzigerjahre tat sie, was sich die meisten von uns eben nie getrauen würden: Sie zog den berühmten Schlussstrich und entschied sich, komplett neu anzufangen.

Der konkrete Auslöser war offenbar ein Disput mit dem Ladenvermieter, wie die «Tessiner Zeitung» unlängst festhielt. Schmid war nicht einverstanden, dass sie für ihr Geschäft eine höhere Miete bezahlen sollte. Im ersten ihrer acht Tagebücher mit dem Titel «Kleine Welt im Tessin», erstmals erschienen 1974, erklärte sie die Beweggründe für ihren radikalen Schritt:

«Am dreissigsten April 1971, abends um zehn Uhr vierundzwanzig, beschloss ich, mein Leben zu ändern. Ich war einundvierzig Jahre alt, ledig, gesund, etwas dick, hatte eine Manie, alles in genaue Zahlen oder Listen zu fassen, liess meine Haare rotblond färben und galt mit meinem stadtbekannten Einrichtungsgeschäft als gutverdienende Karrierefrau. Aber ich hatte genug!»

Schmid verkaufte ihr florierendes Geschäft und hatte dabei Pech: Ihre Privatbank ging Konkurs, und von dem vielen Geld blieben nur zehntausend Franken übrig. Es hinderte sie nicht, ihren Plan trotzdem umzusetzen: Mit fast nichts wanderte sie ins Tessin aus und liess sich in Gerra, einem abgelegenen Weiler im italienischsprachigen Verzascatal, nieder. Dort betrieb sie fortan einen Mini-Bauernhof.

Tagebücher wurden rasch zu Best­stellern

«Um irgendwie überleben zu können, war Schmid auf Einnahmen angewiesen. Also begann sie, über ihr neues Leben in der Natur zu schreiben und Tagebücher zu veröffentlichen», erklärt Roland Voser. Dass ihre authentischen Erzählungen sogleich ein begeistertes Publikum fanden und zu Bestsellern avancierten, überrascht ihn nicht.

«Weg von Basels Schickimicki, zurück zu den Wurzeln, zu einem rustikalen, einfachen Leben in der Idylle der Südschweiz: Das allein ist schon eine starke Story. Viele Menschen waren stadtmüde und erkannten sich in Kathrin Rüegg wieder. Vor allem die Frauen, so auch meine Mutter, bewunderten sie – weil sie die Kraft aufbrachte, sich dem engen Korsett der bürgerlichen Gesellschaft zu entziehen.»

Mit allerlei Aktivitäten baute sich Kathrin Rüegg eine zweite Existenz auf. Sie backte Brot im Steinofen, hütete Schafe, verkaufte im Boutiqueladen «El Boteghin» Tessiner Spezialitäten und kam schliesslich auf die Idee, eine kleine Feriensiedlung zu eröffnen, die sich an all jene richtete, die eine Auszeit von der lärmigen Zivilisation benötigten.

In ihren Tagebüchern verheimlichte sie derweil nicht, dass ihre Oase des Glücks durchaus Schattenseiten und Widrigkeiten aufwies, mit denen sie zurechtkommen musste. Naturgefahren waren stets ein Thema: Die plätschernde Verzasca konnte sich rasch in ein zerstörerisches Flussmonstrum verwandeln, und auch Waldbrände bedeuteten eine nicht zu unterschätzende Bedrohung.

An eine Rückkehr nach Basel dachte Kathrin Rüegg aber offensichtlich nie. So hielt sie im Buch «Von früh bis spät in Froda» versöhnlich fest: «Vielleicht bin ich – nachdem ich nun bald fünfzehn Jahre hier wohne – wie eine abgeklärte Ehefrau, die die Fehler ihres Gefährten lächelnd in Kauf nimmt, weil sie ihn eben liebt.»

Endgültig zu einer prominenten Person der Öffentlichkeit wurde sie 1982, als die Exil-Baslerin auch im Fernsehen zu sehen war. Im deutschen SWR präsentierte sie gemeinsam mit Co-Moderator Werner O. Feisst die Kochsendung «Was die Grossmutter noch wusste».

Bis zu dessen Tod 2006 standen sie in 350 Folgen gemeinsam vor der Kamera und erreichten durchschnittlich rund 800'000 Zuschauer. Rüegg, die sich den Rückzug in ein einsames Tessiner Tal zum Lebensmotto gemacht hatte, gehörte groteskerweise während mehr als zwei Jahrzehnten zu den etablierten TV-Stars.

Das Medieninteresse war entsprechend gross. 2001 strahlte das Schweizer Fernsehen eine längere  Reportage über ihren Alltag in der Abgeschiedenheit aus. 2008 produzierte schliesslich Roland Vosers Geschäftspartner, Maurizio Vogrig, den  Dokfilm «Kathrin's kleine Welt im Tessin».

Nur drei Jahre später, im Juni 2011, starb Kathrin Rüegg im Alter von 81 Jahren im Alters- und Pflegeheim in Gordola. In den Tagebüchern lebt ihr positiver Geist weiter.

Merci vielmal, Christian Keller!

Diesen wunderbaren Artikel über die Exil-Baslerin Kathrin Rüegg hat uns Christian Keller freundlich zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. Dafür und insbesondere für die Veröffentlichung im Basler Online-Magazin primenews danken wir unserem Gastautor sehr herzlich.

Über den Autor: Geboren 1982 in Basel. Schreiberling seit Kindesbeinen an. Berufliche Stationen führten über Basellandschaftliche Zeitung, Telebasel und Basler Zeitung. Gründer des Schweizer Jugendmagazins «Zündstoff» (2004-2007). Studium der Politikwissenschaften und Geschichte an der Uni Zürich. Promotion in Geschichte an der Uni Basel mit Doktorarbeit zur Steuergeschichte der beiden Basel. Militär: Oberleutnant a.D. Verheiratet, drei Kinder.

Auszeichnungen:
Gewinner Zürcher Journalistenpreis (2018)
3. Platz Swiss Press Award, Kategorie Print (2016)

Interview:
«Mein dieses Jahr deklarierter Lohn ist Null»: Gespräch mit OnlineReports-Chefredaktor Peter Knechtli, publiziert am 25. Juli 2019. 

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smartmyway unterwegs.

(c) 2016: Blick nach Breno im Malcantone, Kanton Tessin, Schweiz.
Foto: Roland Voser

 

Seit 2018 Chief Editor, Mitbegründer, Verwaltungsrat und Teilhaber von smartmyway, Autor, Coach, Mentor und Berater. Vorher als Geschäftsführer von Media Markt E-Commerce AG, Media Markt Basel AG, Microspot AG sowie in den Geschäftsleitungen von Interdiscount AG und NCR (Schweiz) AG tätig.

Experte für Digitalisierung, Agile SW-Entwicklung, Digital-Business, Handel, Sales & Marketing, E-Commerce, Strategie, Geschäftsentwicklung, Transformationen, Turn Around, Innovation, Coaching, erneuerbare Energien, Medien, Professional Services, Category Management, Supply Chain Management