Leseprobe 5: “Von Lämmern und Leuten in Froda”.
Leseprobe Tagebuch 5: “Von Lämmern und Leuten in Froda”.
Hier finden Sie die Leseprobe zum fünften Tessiner Tagebuch von Kathrin Rüegg.
Maurizio Vogrig, 30. September 2020
Wir freuen uns! Mit herzlichen Tessiner Grüssen! Hier geht sie weiter, die fünfte Geschichte von Kathrin.
Tessiner Tagebuch Band 5:
Von Lämmern und Leuten in Froda
Das „Kleine Paradies“
Immer wieder werde ich von Lesern gefragt, ob sie an unserer Gemeinschaft im „Kleinen Paradies“ in Froda eine Zeitlang teilhaben oder uns wenigstens zu einem Schwatz besuchen dürfen. Unser Haus ist zu klein, die Zeit viel zu kurz, um alle zu empfangen. Was ich aber kann, ist sie einzuladen, wenigstens in Gedanken zum Beispiel den Monat Mai neunzehnhundertneunundsiebzig mit uns zu verbringen. Es wird ein kurzer Abschnitt aus einem bunten „Leben auf dem Lande“ sein. Zwar alltäglich. Aber unser Alltag ist voller kleiner und großer Überraschungen.
Besuchern gibt man auch Einblicke in Gedanken und Erinnerungen, in Pläne und Hoffnungen. Also werde ich auch das tun. Vielleicht überspringe ich hie und da einen Tag in meinen Aufzeichnungen. Aber sie sollen keine Pflichtübungen sein, sondern das Protokoll über das, was in Froda, einem kleinen Dorf im tessinerischen Acquaverdetal, während eines Monats geschieht. Wir haben vielfältige Aufgaben, stellen uns selbst noch etliche, versuchen sie oft mit unorthodoxen Methoden zu lösen. Bei uns wird noch gesungen und musiziert. Wir spinnen – vielleicht manchmal auch im Kopf – aber doch hauptsächlich mit Spinnrad und Spindel. Wir stricken, wünschen uns einen Webstuhl, wir lachen sehr viel, haben Freuden und Sorgen mit unseren Tieren, wir kochen und backen.
Manche unserer Freunde können wir vielleicht damit trösten, daß es angenehmer ist, meinen Bericht im warmen Zimmer oder auf dem sonnenbeschienenen Liegestuhl zu lesen. Bei uns ist es nämlich noch kalt. So kalt, daß meine steifen Finger Tippfehler über Tippfehler machen und meine Nasenspitze wieder einmal bläulich angelaufen ist.
Sie klopfen also an unsere Türe und rufen, wie das sich hier so schickt:
„Permesso?“
Und ich antworte, was man darauf hier antwortet:
„Avanti!“
„Avanti“ kann man übersetzen mit „Herein“ oder „Vorwärts“.
Also: „Avanti!“
Dienstag, 1. Mai
Immer aufs neue staune ich über die Fülle der Erlebnisse meiner letzten Jahre. Jener, die ich im Tessin verbracht habe, des Stadtlebens in der deutschen Schweiz müde. Nicht an mondänen Ferienorten, wo die Sonnenhungrigen sozusagen aller Länder sich vereinigen, sondern in einem Bergtal, in einem Dorf, dessen Bevölkerung auszusterben droht. Drohte. Vielleicht, vielleicht, aber hoffentlich, mit viel Glück, wird es uns gelingen, ein Rad wiederum in Schwung zu bringen, das schon beinahe stillgestanden hat.
„Uns“ heißt die dreiundzwanzigjährige Susi, eigentlich Sekretärin, der die Büroluft vor anderthalb Jahren verleidet ist, die sechzehnjährige Fränzi, die mir von einer Fürsorgestelle zugewiesen wurde, und ich, bald fünfzig Jahre alt – oder jung.
Wir leben in einem windschiefen alten Tessinerhaus, an dessen zu niedrigen Türöffnungen man den Kopf anschlägt, das schlecht heizbar und für uns drei eigentlich viel zu klein ist.
Aber dafür hören wir das Lied des grünen Flusses, umzwitschern uns Meisen und Zaunkönige, hämmert der Specht und schimpft die Elster. Es blöken viele, viele Schafe, meckern Olimpios Ziegen, rufen sich zwei Eselchen, gackern Hühner, krähen Hähne, kollert der Truthahn, miauen Katzen, bellt ein Hund, schimpft auch Emilia. Kurz: hier wird gelebt!
Nirgendwo ist die Arbeit so abwechslungsreich wie in der Natur. Jeder Monat bringt neue Aufgaben. Jeder Tag stellt neue Probleme. Improvisieren können ist Schulfach Nummer eins. Und eines, in dem man niemals eine Schlußprüfung ablegen kann.
Nächsten Samstag beginnen wir zudem etwas ganz Neues: wir erteilen Spinnunterricht. Ich habe bei Fiorente, einer alten Frau hier im Tal, spinnen gelernt, dann meine Kenntnisse Susi und Fränzi vermittelt. Susi ist vor allem Spezialistin im Spinnen mit der Spindel. Fränzi zieht das Spinnrad vor.
„Was soll ich tun? Ich langweile mich“, habe ich meine beiden Mädchen noch nie jammern gehört.
Handspinnen verdient es, wiederum bekannter zu werden.
Die Redakteurin einer Frauenzeitschrift hat mich vor einem guten halben Jahr angefragt, ob ich bereit wäre, ihren Leserinnen Spinnunterricht zu erteilen. Ich war skeptisch. Ob sich überhaupt Interessentinnen finden würden? Im besten Fall hätte ich im Mai während vier Wochen Zeit, könnte pro Woche sechs Lernwillige aufnehmen.
Einhundertfünfzig haben sich gemeldet! Daraus vierundzwanzig auszuwählen war eine Lotterie. Und nun sind wir wieder einmal sehr neugierig, wer da zu uns und was da auf uns zukommt.
Die Frauen, wir nennen sie die „Spinnweiber“, werden in einem schönen, zentralgeheizten Haus wohnen. Es hat einen Aufenthaltsraum mit einem Kamin, das herrlich zieht – nicht wie meines, wo man nur feuern kann, wenn man Tür und Fenster offenläßt.
Susi übernimmt das Fach „Spindelspinnen“, ist zudem Küchenmädchen. Fränzis Hauptaufgabe wird das Kochen sein. Zudem sind beide natürlich – ich hole tief Atem – Spinnradspinnhilfslehrerinnen.
Mittwoch, 2. Mai
Wenn die Spinnweiber schon zu uns ins Tessin kommen, wollen wir ihnen auch Tessiner oder wenigstens südliche Kost vorsetzen.
Ich glaube, die Art der Tessiner Kochkunst – mindestens diejenige unseres Tals – am genausten zu definieren, wenn ich sie „vereinfachte italienische Küche“ nenne. Die Zutaten sind dieselben. Rosmarin, Salbei, Oregano, Knoblauch dienen hier wie dort als bevorzugtes Gewürz.
Die Zubereitungsarten sind einfach. Bis vor wenigen Jahrzehnten kochte man auf dem offenen Holzfeuer des Kamins – buk im Brotbackofen. Daß man auf diese Weise keine raffinierten Speisen komponierte, versteht jeder. Eine Bauernfrau mit ein paar Kindern hatte weder Geld noch Zeit für aufwendige Speisen. Daß sie trotzdem – oder gerade deshalb so gut schmecken, liegt an der Phantasie, die aus etwas Einfachem etwas Gutes zubereiten hilft.
Chefköchin Fränzi wird vieles ohne meine Hilfe und Aufsicht kochen müssen und wünscht deshalb ganz genaue Rezepte. Sie hat einen beträchtlichen Köchinnenstolz. Nichts darf schiefgehen.
Draußen hagelt und regnet, blitzt und donnert es. Wunderbares Wetter also, um Menüpläne und Einkaufslisten aufzustellen, Rezepte genaustens aufzuschreiben. Susi und Fränzi hocken mit ihren Spinnrädern beim Ofen. Ich behämmere die Schreibmaschine. Ein Tip für alle, die sich den Kopf über Eßbares zerbrechen müssen: tut man es mit hungrigem Magen, purzeln die Einfälle nur so hervor. Nach dem Essen aber, da harzt es.
Donnerstag, 3. Mai
Die Mädchen sind nach „unten“ gefahren, nach Locarno, um Einkäufe gemäß einer langen, langen Liste zu machen. Ich bin allein, nehme mir ein ungeheures Plansoll vor – und komme zu beinahe gar nichts.
Da sind einmal unsere Alpschaf-Waisenlämmchen, momentan acht, die verschiedene Besitzer uns anvertraut oder geschenkt haben. Die vier größeren Tiere bekommen alle sechs Stunden ihr Fläschchen, die kleinen, alle in dieser Woche geborenen, alle vier Stunden. Das heißt also, um sieben, elf, ein, drei und sieben Uhr die entsprechenden Milchmischungen zubereiten, Quantitäten abgestuft nach dem Alter.
Wir haben die Milch unserer Milchschafe. Emilia gibt uns von der Milch ihrer Ziegen und der beiden Kühe ab, was sie entbehren kann. Eines haben wir nämlich gelernt: die schöne pasteurisierte Milch, diejenige aus den hygienischen Tüten, ist für die Lammaufzucht total ungeeignet. Zwei Kleine starben diesen Winter deswegen an Verdauungsstörungen. Und das trinkt nun die sauberkeits-, homogenisierungs- und wasweißichnochbewußte Menschheit!
Ein Lämmchen tränken ist einfach. Schnuller wie für Kleinkinder, auf eine Bierflasche aufgesteckt, gleich die gesamte technische Einrichtung. Wir könnten auch für Menschenbabies die Quantitäten nicht exakter abmessen, die richtige Temperatur nicht genauer beachten.
Der Mensch hat zwei Hände. Deshalb ist es auch möglich, zwei Lämmchen aufs Mal zu tränken. Die Tiere ziehen aber so kräftig an der Flasche, daß man mit Vorteil den mit dem Schnuller überzogenen Teil des Flaschenhalses festhält. Sonst leert man dem hungrigen Kind die Milch über den Kopf – und zudem droht es am weggezogenen Schnuller zu ersticken.
Bei drei Lämmchen bindet man einen Schnuller mit Gummiband an der Flasche fest, klemmt diese zwischen die Beine. Ein Lamm rechte Hand, eines linke, eines zwischen den Beinen. Schmatz, schmatz.
Aber acht hungrige, drängelnde, stoßende, zappelnde, hüpfende Lämmchen und bloß eine Säuglingsschwester ergibt ein Gewusel und Geblöke, das einen zur Verzweiflung treiben kann. Deshalb besorgen wir wenn möglich diese Arbeit zu zweit oder zu dritt. Nun bin ich aber allein. Den Kübel mit den vollen Flaschen haben sie mir umgeschmissen, eine leere Flasche ist in Brüche gegangen. Einen Schnuller habe ich verloren, einen Finger gequetscht, und ein Loch ist im Kittel. Aber was tut eine Mutter schon nicht alles für ihre Kinder! …
Ende der Leseprobe.
Hier geht’s zu den Büchern.
Wir haben für Sie alle Leseproben bereitgestellt (klicken Sie auf den Link):
Tessiner Tagebuch Band 1 - Kleine Welt im Tessin
Tessiner Tagebuch Band 2 - Dies ist mein Tal - dies ist mein Dorf
Tessiner Tagebuch Band 3 - Mit herzlichen Tessiner Grüssen
Tessiner Tagebuch Band 4 - Nach jedem Winter kommt ein Sommer
Tessiner Tagebuch Band 5 - Von Lämmern und Leuten von Froda
Tessiner Tagebuch Band 6 - Grosser Stall kleines Haus
Tessiner Tagebuch Band 7 - Ein Dach überm Kopf
Tessiner Tagebuch Band 8 - Von früh bis spät in Froda
Tessiner Tagebuch Band 9 - Kathrins Begegnungen
Viel Freude beim Lesen! Herzliche Grüsse!
Seit 2018 Chief Publisher, Mitbegründer, Verwaltungsrat und Teilhaber von smartmyway. Übersetzer und Autor. Vorher als Geschäftsführer des Seth-Verlags sowie als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Lugano tätig.
Experte für Kommunikation, Media Management, Verlagswesen, professionelle Übersetzungen, Veröffentlichungen von digitalen Publikationen von internationalen und nationalen Autoren, Spezialist für Amazon-Publikationen, Medien-Digitalisierung.