Leseprobe 8: “Von früh bis spät in Froda”.
Leseprobe Tagebuch 8: “Von früh bis spät in Froda”.
Hier finden Sie die Leseprobe zum achten Tessiner Tagebuch von Kathrin Rüegg.
Maurizio Vogrig, 30. September 2020
Dieses Tagebuch kam ursprünglich unter dem Titel “Von Morgen bis zum Abend” heraus. Leider wurde in der Zwischenzeit von einem anderen Autor ein Buch unter diesem Titel veröffentlich. Daher haben wir uns entschlossen, hier einen anderen - wie wir finden - auch sehr schönen Titel zu vergeben.
Wir freuen uns! Mit herzlichen Tessiner Grüssen! Hier geht sie weiter, die achte Geschichte von Kathrin.
Tessiner Tagebuch Band 8:
Von früh bis spät in Froda
Ein trüber Spätwinter-Vormittag.
Es regnet.
Der Schnee liegt noch auf den Feldern, schaut schmutzig aus. Da, wo er an den Wegrändern geschmolzen ist, sieht man die Erde, Steine und braunes Gras.
Bubu, eine meiner Ziehtöchter, hat meine Schreibmaschine in einen Hühnerfuttersack gesteckt, einen ordentlichen Stoß Papier und meine Brille dazu. Nun steht sie da in ihrem gelben Regenschutz und wartet, bis ich meine Schlüssel zusammengekramt und die Schuhe angezogen habe. Wir brechen auf zu meinem Versteck, das so weit vom Haus weg ist, daß niemand mich rufen kann, daß niemand zu mir kommt, um mir dringend irgend etwas zu erzählen oder etwas zu fragen, was er vorhin zu fragen vergessen hat.
Ohne dieses Versteck würde ich es nicht mehr schaffen, diesen Bericht zu schreiben, denn in meinem Haus herrscht so viel Betrieb, daß ich zu sagen versucht bin: in meinem Haus, da brodelt das Leben. Menschen, junge und alte, Tiere, junge und alte …
Ein bißchen unwillig gehe ich weg. So viel Arbeit im Haus wäre zu tun:
In der Färbküche dampft ein Farbbad aus Krappwurzeln. In der Webstube hängen die mit Bärentraubenblättern gelb und grün gefärbten Wollstrangen, die man mit Etiketten versehen sollte.
Die Waschmaschine brummt. Ein Berg schmutziger Handtücher liegt daneben.
Die auf dem Balkon flatternde Wäsche wäre jetzt gerade schön bügelfeucht.
Zum Mittagessen gibt es gekochtes Rindfleisch.
Man müßte es bald aufsetzen …
Es fällt mir schwer, nun all diese Arbeiten, die ich gerne tue, meiner Jungmannschaft zu überlassen, mich in meine Klause zu verziehen, mich hinzusetzen, zu schreiben.
Doch nur der Augenblick des Weggehens ist mühsam, das Sich-Losreißen. Wir gehen, oder besser stolpern, über den steinigen Weg zum Fluß. Sobald der Schnee weg ist, wird da viel aufzuräumen sein.
Auf der Brücke verweilen wir, wie das unsere Gewohnheit ist, beim Pfeiler. Die Forellen, die den ganzen Winter über immer an derselben Stelle sichtbar waren, sind nicht mehr da. Sie haben ihren Standort offensichtlich gewechselt. Begreiflich: am ersten Märzsonntag begann die Zeit der Fischerei.
Wir klettern in unser kleines Auto, das einmal eine weiße Grundfarbe hatte, die dann aber überdeckt wurde durch unzählige Aufschriften, Bemalungen und Kleber, schließlich auch zwei rotgespritzte Kotflügel, damit man die selbstausgebeulten Stellen nicht so sehr beachtet.
Wir fahren vorbei an Odivios Stall, der eine Zeitlang unser Wolle-Verkaufsraum gewesen war, dann zweimal von Erdrutschen verschüttet wurde und nun – ausgegraben – wiederum als Stall dient.
Wir fahren vorbei an Gualtieros Haus. Dort drin kreischt die Kreissäge. Gualtiero oder sein Bruder Ettore werden dabei sein, Zoccoli zurechtzuschneiden, die wir dann in unserm neuen Laden verkaufen können.
Es regnet stärker. Die Berge sind verhangen. Eine Landschaft in lauter Grau- und Brauntönen. Einer, der unser Tal zu dieser Jahreszeit und bei solchem Wetter kennenlernt, wird es fluchtartig wieder verlassen wollen. Heute verbirgt die Gegend all ihren Charme.
Mir kommt sie aber trotzdem schön vor. Vielleicht bin ich – nachdem ich nun bald fünfzehn Jahre hier wohne – wie eine abgeklärte Ehefrau, die die Fehler ihres Gefährten lächelnd in Kauf nimmt, weil sie ihn eben liebt.
In meiner Schreibstube steht ein gußeiserner Ofen, in dem ein Feuer prasselt. (Danke Bubu!). Das Fenster gibt den Blick frei auf eine alte Tanne. Etwas weiter rechts am Hang steht ein mit Steinplatten gedecktes Haus, aus dessen Kamin Rauch aufsteigt. Ich sehe auch ein Stück Straße. Die Postina fährt vor, stoppt, um den Briefkasten an der Mauer zu leeren.
Die Schreibmaschine wird aus dem Sack gezogen. Ein paar Körner Hühnerfutter haben sich im Typenkorb verklemmt …
Nun sitze ich da, komme mir vor wie mein Vater, der, bevor er zu erzählen begann, tief einatmete und dann sagte:
„Also, das war so …“
Vielleicht müßte ich es nun noch präzisieren:
„Also, an meinem sechsundfünfzigsten Geburtstag war es so …“
Ich habe mir an jenem Tag Notizen gemacht darüber, was ich sah, woran es mich erinnerte, was ich dachte, wem ich begegnete, was meine Mitbewohner für Gedanken und Probleme hatten, was unsere Tiere taten. Denn mein Bericht wird einerseits ein Protokoll über einen einzigen Tag in meinem Leben sein. Ich beantworte damit diejenige Frage, die in vielen Briefen steht, die ich von meinen Lesern erhalte. Die einfachste Frage, die man an jemanden stellt, an dessen Leben man interessiert ist:
„Wie geht es dir?“
Gleichzeitig versuche ich, einem oft geäußerten Leserwunsch zu entsprechen: Hautnah den Werdegang eines Manuskripts mitzuerleben. Deshalb wird das Stundenbuch über meinen Geburtstag eingebettet in Tagebuchnotizen – auch diese wieder hin- und herpendelnd zwischen Erlebnissen, Gedanken und Erinnerungen.
Eins muß ich vorwegnehmen: es brodelt wohl das Leben in meinem Haus – aber die aufregenden Zeiten, die das primitive Leben mit sich gebracht hat – die scheinen vorbei zu sein. Wir wohnen nun menschen- und tiergerecht, das Dach über unsern Köpfen ist aus Stein und hält dicht. Einfach leben wir immer noch – und werden es auch weiter tun – aber in ordentlich aufgeräumter Umgebung und so organisiert, daß uns möglichst viel Zeit für kreatives Arbeiten übrig bleibt.
Wenn ich unser heutiges Leben mit demjenigen der ersten zehn, zwölf Jahre im Tessin vergleiche: damals bin ich mit einem mehr oder minder lecken Boot durch einen Wildbach gefahren – und heute sind wir auf einer Fähre, die einen Fluß überquert, der wohl hie und da seine Tücken hat, aber doch ruhig fließt.
Eigentlich sollte ich das Wort „Fähre“ ersetzen durch „Arche“, denn die Zahl der Tiere und Tierarten übersteigt diejenige der Menschen oft wesentlich.
… und manchmal komme ich mir vor wie Noahs Frau, als sie den Regenbogen sah …
Freitag, den 7. März 1986, ca. sechs Uhr morgens
Fünfzehn Glockenschläge.
Heute weiß ich, daß dies das Morgengeläute ist. Am Anfang meines Hierseins glaubte ich, die Kirchenuhr sei defekt.
Längst weiß ich auch, daß diese Glockentöne entstehen, weil Marino am Seil zieht. Die Kirchenuhr – die Marino täglich aufziehen muß – hat ein Gangwerk mit zwei Gewichten. Zwei mächtigen Steinen.
Das Wissen, daß da ein Mensch ist, der täglich die Mühe auf sich nimmt, morgens so früh aufzustehen, zur Kirche zu gehen, um uns paar Leuten kundzutun, daß ein neuer Morgen dämmert, die Uhr aufzuziehen, das erfüllt mich immer aufs Neue mit Dankbarkeit. Es ist einer der vielen Gründe, weshalb ich mich hier so wohl fühle.
Ich dehne und strecke mich, öffne die Augen. Es ist noch beinahe dunkel. Ich kann aber, ohne daß ich den Kopf zu heben brauche, auf das Dach des gegenüberliegenden Stalles schauen. Auf der Ostseite liegt noch ein guter halber Meter Schnee, auf der Westseite ist bloß noch ein schmaler weißer Saum sichtbar. Die Konturen der Berge lassen sich erahnen. Verschlafenes, zögerndes Vogelgezwitscher ist hörbar.
Ein grauer Tag dämmert herauf.
Grau oder nicht grau: es ist mein Geburtstag. Die Uhr schlägt sechs Uhr – und wiederholt ihren Stundenschlag nach einer Weile nochmals. Eine weise Einrichtung, damit auch diejenigen, die die Uhr beim ersten Mal nicht hörten oder vielleicht falsch zählten, nun genau wissen, daß es sechs Uhr ist.
Ich drehe mich um, schaue auf den Radiowecker, der auf die Sekunde genau läuft.
Sechs Uhr null fünf.
Vor ganz genau sechsundfünfzig Jahren bin ich geboren worden.
Meine Katzen unterbrechen meine Gedankenwanderungen. Wenn der neue Tag beginnt, hebt auch ihr Spiel an, das darin besteht, daß Fluffi sich unterm Bett versteckt, Moses vom Bett herunter mit der Pfote nach ihm hangelt. Die schönste Hasch-Mich-Rennerei geht los. Auf das Bett und unters Bett. Mösli, grau, mit weißem Latz und weißen Pfoten, Fluffi, grau getigert, balgen sich, daß die Haare fliegen. Das ist aber bloß Spiel. Eines, das sie seit acht Jahren spielen, als Mösli Fluffis Kindergärtner war.
Vom obern Stock her höre ich das Tappen von bloßen Füßen, dann das Quietschen einer Türe. Susi, seit mehr als acht Jahren meine Hausgenossin, ist aufgestanden. Zeit auch für mich.
Ende der Leseprobe.
Hier geht’s zu den Büchern.
Wir haben für Sie alle Leseproben bereitgestellt (klicken Sie auf den Link):
Tessiner Tagebuch Band 1 - Kleine Welt im Tessin
Tessiner Tagebuch Band 2 - Dies ist mein Tal - dies ist mein Dorf
Tessiner Tagebuch Band 3 - Mit herzlichen Tessiner Grüssen
Tessiner Tagebuch Band 4 - Nach jedem Winter kommt ein Sommer
Tessiner Tagebuch Band 5 - Von Lämmern und Leuten von Froda
Tessiner Tagebuch Band 6 - Grosser Stall kleines Haus
Tessiner Tagebuch Band 7 - Ein Dach überm Kopf
Tessiner Tagebuch Band 8 - Von früh bis spät in Froda
Tessiner Tagebuch Band 9 - Kathrins Begegnungen
Viel Freude beim Lesen! Herzliche Grüsse!
Seit 2018 Chief Publisher, Mitbegründer, Verwaltungsrat und Teilhaber von smartmyway. Übersetzer und Autor. Vorher als Geschäftsführer des Seth-Verlags sowie als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Lugano tätig.
Experte für Kommunikation, Media Management, Verlagswesen, professionelle Übersetzungen, Veröffentlichungen von digitalen Publikationen von internationalen und nationalen Autoren, Spezialist für Amazon-Publikationen, Medien-Digitalisierung.