Marktplätze werden von Verhaltensdaten leben.

Die digitale Versuchung. Wenn Mathematiker den Handel übernehmen und Marktplätze Verhaltensdaten sammeln.

Soylent Green oder sie wissen nicht, wie ihnen geschieht: Wenn Mathematiker den Handel übernehmen. Und es Google letztlich nur um Relevanz geht. Dann sprechen wir vom Öl der Zukunft. Unseren Daten.

Roland Voser, 23. Oktober 2018

Plätzchen gefällig? Ein grünes vielleicht?

Schön, dass ich das noch erleben darf: Mit dem Swiss-Jumbolino fliege ich nach Budapest. Dieses wunderbar reife 4-düsige Kleinflugzeug, dessen Ledersitze über die Jahre so schön speckig geworden sind, das aber immer noch täglich seinen zuverlässigen Dienst leistet. Ich damit unterwegs zum internationalen Treffen der E-Commerce-Verantwortlichen.

Schade, sie servieren wieder einmal Seafood. Die freundlich angebotenen Kräckers scheinen mir keine verlockende Alternative zu sein. Ich habe ein etwas zurückhaltendes Verhältnis zu diesen künstlichen Plätzchen.

Kennen Sie den Science-Fiction-Film „Soylent Green“ aus dem Jahre 1973 unter der Regie von Richard Fleischer mit den Altmeistern des amerikanischen Schauspiels Charlton Heston und Edward G. Robinson in den Hauptrollen?

Diesen spannenden Zukunftskriminalthriller der Vergangenheit, in dem die Menschen von roten und gelben Plätzchen ernährt werden und sich nur noch ein paar Superreiche sauberes Wasser und natürliche Lebensmittel – neben zum „Hauseigentum“ gehörenden Konkubinen – zu horrenden Preisen leisten können?

Und im Zuge der immer grösser werdenden Ernährungskrise im Jahre 2022 die schrecklich nachhallende Auflösung um das Geheimnis der nachträglich eingeführten grünen Variante?

Schauerlich, ja kafkaesk insofern, als dass der Kreislauf der Dinge nicht mehr über Staub und Erde hin zu Saat und Ernte verläuft, sondern eine künstliche kannibalistische Abkürzung genommen hat.

Siroop's Soylent Green Spot.

Diese farbigen Plätzchen sind in unserer Neuzeit nun plötzlich wieder aufgetaucht. Erinnern Sie sich? An diesen TV-Spot mit entrückten tanz-dich-frei Menschen? Mit den vielen roten, gelben, türkisblauen und ja, auch grünen, herumfliegenden Plätzchen in einer etwas dümmlichen Gesamtperformance?

Ob diese Siroop-Werbung über die Zeit denselben nachhaltigen Eindruck bei uns hinterlassen wird wie der Eingangs erwähnte Film, lasse ich unbeantwortet.

Vom Marktplatz von Coop handelt der Inhalt dieser etwas entarteten Kurzgeschichte. Womit offenbar der Online-Anschluss aller Tochtergesellschaften mit Hilfe anderer frequenzbringenden Online-Shops, Entschuldigung, husch-husch gefunden werden soll.

Wir Soylent-Eingeweihten stehen diesen Farbteilchen verständlicherweise ernsthafter gegenüber. Uns bleibt diese Verknüpfung von Soylent und Siroop an den kleinen Widerhäckchen unbeantworteter Gedanken hängen.

Marktplätze als Lösung für die Zukunft? Coop mit Siroop, Migros mit Galaxus und beide gegenüber Amazon? Dem Original, das noch nicht direkt in der Schweiz aktiv ist, aber trotzdem wie Zalando bereits für eine Unmenge an Paketen bei der Schweizer Post sorgt.

Gegenentwurf zum Original.

Zweifel sind berechtigt, ob das funktioniert: Ein virtueller Marktplatz mit Detailhändlern als Markenaufhänger? Der Kunde wird sich fragen, wieso er auf dem Marktplatz einkaufen soll, wenn er doch direkt beim Original shoppen kann.

Denn nur wo Amazon drauf steht, ist auch Amazon drin. Man weiss latent, dass Zwischenhandel gleichbedeutend mit höheren Preisen ist. Oder welchen Vorteil böte er, es trotzdem zu tun?

Wir würden in der Schweiz vielmehr einen Gegenentwurf zu Amazon erwarten, als es dieser Firma gleich zu tun.

Auch Coop weiss, dass für den Kunden das ganze Netz bereits ein viel effektiverer Marktplatz ist. Aber ein Unkontrollierter. So gesehen wird es klar, wieso Coop für diese Idee 100 Millionen Schweizer Franken an den Start schickt: Das Bestreben nach höheren Erträgen ist an sich verständlich. Ob das über Marktkontrolle erfolgen soll, wohl eher nicht.

Daten, das Öl der Zukunft.

Dieses Ansinnen dürfte wohl vor dem Hintergrund der laufenden Digitalisierung des Kunden zu sehen sein. Die Partnerhändler des Marktplatzes sollen nicht nur Kundenfrequenz bringen, sondern auch für eine Menge digitaler Kundendaten sorgen.

Wenn nun im Artikel der NZZ AM SONNTAG von Marco Metzler vom 23.10.2016 unter dem Titel "Reiche bezahlen mehr" personalisierte Preise bei Detailhändlern thematisiert werden, lohnt sich genaueres Hinschauen.

Da ist die Rede von knapp 10% Ertragssteigerung durch den Einsatz von "Personal Pricing". Angesichts der äusserst angespannten Margen in den Handelsbranchen mit hohem Wettbewerb wie Food, Consumer Electronics, Medien etc. ist hier von substantiellen Beiträgen die Rede, die für Händler schlicht existentiell sein können. Und – der Handel ist ja keine soziale Veranstaltung.

(Etwas) Reiche(re) zahlen (ziemlich viel) mehr.

Dass sich die beiden (sozialen) Genossenschaften Coop und Migros jetzt gerade die scheinbar "reichen“ Kunden durch personalisierte Preise vornehmen, hat so gesehen auch eine politische Komponente, deren tatsächlicher Vorgang die Politik wohl erst später nachvollziehen wird.

Nur, ob die Händler überhaupt selbst verstehen, was sie da im Begriff zu tun sind? Bereits die Ingenieure, die ihnen den Online-Handel gebracht haben, sind ihnen fremd gewesen und sind es im Grunde noch immer.

Schon die Ingenieure haben die Händler genervt.

Jetzt kommen die Mathematiker mit ihren hochkomplexen Algorithmen.

Richtig angewandt, durchaus spannend. Unkontrolliert, fraglich. Nicht nur aufgrund von an sich harmlosen technischen Glitches in digitalen Schaltungen mit ihren kurzen undefinierten Zuständen und Aussetzern, sondern mit durchaus signifikantem Einfluss auf Geschäft und Gesellschaft, wenn beispielsweise Börsen-Algorithmen kurzzeitig aus dem Takt geraten und damit Aktienkurse unvorhersehbar beeinflussen.

Die Händler haben ins Paradies des digitalen Verkaufs gefunden, und die Frucht der Versuchung lockt. Nahezu unwiderstehlich.

Digital Sales & Marketing gibt den Händlern die Möglichkeit, in einer positiven Art und Weise die Kundenbedürfnisse zu verstehen und diese mit entsprechend individualisierten Angeboten bestmöglichst abzudecken.

Das Gute.

Keinen Kunden mit Werbung zu belästigen, der diese nicht sehen will, und sich gleichzeitig diese somit unnötigen Werbekosten sparen. Beide profitieren: Der Kunde und der Händler.

So muss Customer Centricity. Ehrliche Kundenorientierung. Konstruktiv und wertbringend für den Kunden. Auch individuell und wie versprochen: menschlich, persönlich.

Werden Algorithmen nicht mehr zum Wohle der Menschen eingesetzt, läuft etwas grundsätzlich schief. 

Das Böse.

Benachteiligung loyaler kaufkräftiger Kunden mittels höherer Preise, anstelle logischerweise erwarteter Bevorzugung, schädigt das Vertrauen in den Händler fundamental.

Dieser krasse Widerspruch unterwandert primär das Vertrauen in die Marke des Detailhändlers, und im Wissen, was über die Jahre ein Markenaufbau kostet, ist dieses Unterfangen in grossem Masse schlicht geschäftsschädigend.

Personalisierte Rabatte, die ein Kunde aufgrund seiner vermuteten Kaufkraft nicht erhält, ein anderer aber schon, ist so gesehen dasselbe. Woher erhalten diese Experten eigentlich die tadellose Information über die individuelle Kaufkraft ihrer Kunden?

Hochwürden hinter der digitalen Ladentheke.

Zusätzlich störend schwingt dabei mit, dass sich der Händler so in die neue Position einer zweifelhaften Moralinstanz erhebt, ohne dass er dazu legitimiert wäre oder sich der damit verbundenen möglicherweise weitreichenden Konsequenzen bewusst wäre.

Das blosse "Besitzen“ von Kundendaten mit Einverständnis der Kunden durch die Allgemeinen Geschäftsbedingungen reicht für diesen hohen Anspruch nicht.

Dass die Händler gerade hier so unbekümmert wie Zauberlehrlinge den digitalen Zauberbesen schwingen, erstaunt. Denn wenn jemand eine neutrale Position bezüglich Religion, Gesellschaft, Politik einnimmt, dann sind es zu Recht die Händler.

Und wissen Sie, was am meisten an dieser "negativen Kundenorientierung" stört? Dass die Menschen getrieben werden, Umgehungsmöglichkeiten zu finden. Sich in Gemeinschaften zusammenschliessen, nicht mehr Kundenkarten benützen, ausschliesslich über alte Windows-PCs einkaufen oder einfach sonst wie ihr Kaufverhalten verschleiern. Und jetzt kommt's: Damit wird natürlich im Gegenzug unweigerlich ebenfalls eine wirkungsvolle "positive Kundenorientierung" verunmöglicht.

Der Handel tut gut daran, sehr sorgfältig und verantwortungsbewusst mit den neuen Möglichkeiten von Digital Sales & Marketing umzugehen und gegenüber seinen Kunden auch diesbezüglich ein klares Bekenntnis abzulegen. Das im Artikel beschriebene Personal Pricing gehört so gesehen nicht in die Toolbox einer ehrlich kundenorientierten Unternehmung, nicht wahr?

Mir zumindest haben solche Meccanos die Freude am privaten Fliegen und Reisen genommen. Ich fühle mich beim Buchen immer irgendwie über den Tisch gezogen.

Vor einigen Wochen haben wir Google in Dublin besucht. Dort, wo deren europäisches Business-Hauptquartier ansässig ist.

Relevanz. Relevanz. Nochmals Relevanz.

Google hat in seiner Conversions-Veranstaltung die Veränderung im Digital Sales & Marketing aufgezeigt und – auch zum Schutze ihres eigenen Ökonomiesystems – klar gemacht, wie mit höherer Relevanz am Kunden das gemeinsame Geschäftsmodell im positiven Sinn weiterentwickelt werden soll.

Exemplarisch erklärt: Wenn die Blockierung von Banner-Werbung laufend zunimmt, dann vertritt Google die Position, dass diese Werbebanners für den Kunden so relevant werden müssen, dass sie von ihm freiwillig nicht mehr geblockt werden. Also ein konstruktiver, fairer Ansatz gegenüber dem Kunden.

Dies im Gegensatz zu restriktiven, destruktiven anderen Möglichkeiten: Medien zeigen beispielweise ihre Inhalte bei eingeschalteten Werbeblockern nicht mehr an und stellen den User vor die ultimative Wahl.

Nicht, dass damals in Dublin bei Google gerade die neue Weltordnung geschrieben wurde. Aber es war schon bemerkenswert, dass de facto kein Offliner effektiv den Weg dorthin gefunden hat. Ich habe auch keinen Kapitän eines Schweizer Handelsschiffs bemerkt.

Die Gewissheit der Unwissenden.

Woher nehmen diese Wirtschaftsführer bloss ihre Gewissheit, ihr Geschäft sicher durch die Untiefen der zukünftigen digitalen Herausforderungen lotsen zu können? Oder tun sie einfach das, was ihnen Berater empfehlen? Selbst wenn diese zum Backen grüner Solyent-Plätzchen raten?

Ich meine: Wie wollen Omnichannel-Manager verstehen, was die tatsächlichen Herausforderungen heute digital und morgen im Handel generell sein werden, wenn sie reaktiv und fremdgesteuert den neuen Herausforderungen und Veränderungen entgegentreten?

Das Ganze begleitet von einer überforderten Politik, die über Roadpricing und das Verbot von Dieselfahrzeugen lamentiert, anstatt mit ganzer Kraft eine Warenmetro für die Schweiz ins Leben zu rufen.

Vielmehr wäre eine Politik gefragt, die sich Gedanken macht, wie Schweizer Spezialshops weltweit ihre Produkte und Spezialitäten online ohne regulatorische Hürden verkaufen könnten.

Solche adäquaten Projekte wären in einem Land zu erwarten, das über eine Avenir-Suisse-Denkorganisation und einen (nahezu jede akademische, noch so an den Haaren herbeigezogene Idee) finanzierenden Nationalfonds verfügt.

Standortfaktoren.

Google hat seinen europäischen Hauptsitz der findigen Köpfe, Kreativen und Ingenieure in Zürich platziert und sich dabei von folgenden Punkten leiten lassen:

1.    Die Top-Universitäten ETH/EPFL

2.    Das geschäftsfreundliche Umfeld

3.    Die hohe Lebensqualität

In der Schweiz, dem Ort, der sowohl das reichste als auch das glücklichste Land Europas ist.

Inmitten einer digitalen Revolution mit etwa derselben Tragweite, wie damals die seit dem Jahr 1700 einsetzende Aufklärung. Nicht zu übertrieben angesichts des durch den dramatischen technischen Fortschritt befeuerten epochalen digitalen Kulturwandel.

Byebye Budapest. Hello Zurich.

Unsere Tagung war inspirierend. Wertvoll der Austausch mit den Kollegen mit ihren unterschiedlichen Entwicklungen über die Länder hinweg.

Eine gehörige Portion Ungewissheit bleibt. Der Schluss von Soylent Green passt irgendwie dazu.

NZZ AM SONNTAG, von Marco Metzler, vom 23.10.2016
Reiche bezahlen mehr

http://www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntag/personalisierte-preise-reiche-bezahlen-mehr-ld.123606

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smartmyway unterwegs.

(c) 2018: Capanna Monte Bar, Val Colla, Kanton Tessin, Schweiz. Foto: Roland Voser

 

Seit 2018 Chief Editor, Mitbegründer, Verwaltungsrat und Teilhaber von smartmyway, Autor, Coach, Mentor und Berater. Vorher als Geschäftsführer von Media Markt E-Commerce AG, Media Markt Basel AG, Microspot AG sowie in den Geschäftsleitungen von Interdiscount AG und NCR (Schweiz) AG tätig.

Experte für Digitalisierung, Digital-Business, Handel, Sales & Marketing, E-Commerce, Strategie, Geschäftsentwicklung, Transformationen, Turn Around, Innovation, Coaching, erneuerbare Energien, Medien, Professional Services, Category Management, Supply Chain Management