Ideenlosigkeit der Händler und wieso das so ist.

Willkommen in Köln. Köln-Bonn. Mit Ideenlosigkeit droht das Tal der Tränen. Händler erfinden nichts. Sie kopieren einfach ohne Unterschied und suchen dennoch Differenzierung.

Etwas für die Meister des Kopierens. Die Offliner im Einzelhandel. Oder wenn Händler hoffnungsvoll ihre Strategieansätze auf Messen sammeln. 

Roland Voser, 18. September 2018

Von grossen und kleine Buchstaben.

Gegen Herbst, rechtzeitig vor dem Weihnachtsgeschäft (das im Online-Geschäft schon im November beginnt), also vorwiegend im September, finden Messen statt, wo sich jeweils einzelne Branchen der Öffentlichkeit vorstellen.

Bevor Sie jetzt zu Gähnen beginnen, verspreche ich Ihnen, dass dieser Bericht durchaus spannend wird, weil die folgenden Insights nur von einem Zielgruppenrandständigen (=Ü50) wie mir gemacht werden können.

Die IFA (Internationale Funkausstellung, Berlin) zeigt auf einer rund 3 mal grösseren Fläche wie die dmexco (Digital Marketing Exposition & Conference, Köln), die Trends der Consumer und Home Electronics. Auch die Anzahl Fachbesucher bewegt sich in derselben Relation wie bei der Online-Marketing-Messe.

Die Unterschiede?

Die Besucher der dmexco (abgekürzt in Kleinbuchstaben, übrigens wie die auch in Köln stattfindende gamescom) drängen sich im Gegensatz zur 6-tägigen IFA in zwei Tagen durch die Ausstellungsflächen, was die Atmosphäre der explodierenden Online-Geschäftsfelder markant unterstreicht. Da wuseln spannungsgeladene Menschen aller Altersklassen (erstaunlicherweise) durch die Stände und quatschen einander die Ohren über das Big Business voll (erwartungsgemäss), wofür sie in jedem Fall unentbehrlich sind (natürlich). Die Stände voll mit Nichts zum Anfassen. Software eben. Online-Marketing-Software für das grosse Geschäft der Konvertierung von Kundeninteresse in Umsätze. Möglichst ohne Streuverlust. Maschinengesteuert optimiert.

Da erweckt die IFA (abgekürzt in Grossbuchstaben) eher den Eindruck einer freundlichen Tante, die am jährlichen Treffen etwas verrückt und sympathisch unvernünftig tüchtig Geld in die Hand nimmt und es im Stile der Pionierjahre der 90iger wieder einmal krachen lässt. Eine richtig schöne Offline-Veranstaltung des letzten Jahrtausends eben. Hersteller präsentieren ihre neuen, einfach begreifbaren Produkte und verkaufen sie als die Innovationen der aktuellen Verkaufsperiode und manchmal auch etwas überzogen als die wichtigsten Trends der Folgejahre.

Ein ansprechender Spannungsbogen zwischen Köln und Berlin, nicht wahr? Aber jetzt auf den Punkt.

Wieso tut sich der Handel mit Innovation bei sich selbst eigentlich so schwer?

Wieso müssen ganze Bücherketten, ganze Einkaufszonen in Innenstädten zuerst im Tal der Tränen verschwinden, bis sich neue Geschäftsideen, dann meist andernorts, wieder etablieren?

Weil Händler Getriebene sind! Und damit Fremdvisionen verfolgen. Es sind die grossen Ausnahmen, wenn im Handel Vordenker das Geschäft antreiben, dabei grossartige Unternehmer sind und sich alles in verschiedensten Bahnen letztlich ausschliesslich um sie dreht.

Aber tatsächlich irgendetwas schaffen? Können Händler das? Ein Buch schreiben? Es drucken und verkaufsbereit bereitstellen?

Erschaffen im wahrsten Sinne des Wortes.

Natürlich, eine Optimierung der Wertschöpfungskette Lieferant bis Kunde, damit ein eingekauftes Produkt später etwas teurer verkauft werden kann, das durchaus.

Aber etwas nachhaltig schaffen? Im ursprünglichen Sinne des Wortes? Etwas, das angefasst werden kann? Wie ein Produkt oder System? Eine tatsächliche Wertschöpfung? Das Leben in einer Kultur des Engineerings? Etwas, das den Menschen das Leben einfacher und schöner macht?

Händler haben das nie gelernt und auch nie gekonnt. Sie haben die Weltmärkte wie Trüffelschweine durchforstet und eben gerade solche werthaltigen Dinge gesucht, die sie zu ihren Kunden bringen und ihnen in der Hoffnung eines möglichst höheren Preises auch verkaufen können. Das ist auch wertvoll.

Grossartig inszeniert bei den Könnern, unterhaltend bestimmt, das Timing für die Pointe perfekt gespürt und klar in der Kommunikation, durchaus. Eher einem Theaterstück gleich, wo viel Kulisse und Unechtes ist, aber stets mit einer fesselnden Geschichte im Programm und immer auf den Applaus des Publikums aus. Und der kommt auch. Das ist doch schon was. Was will man mehr?

Meister der Kopie.

Manche Händler erzählen wohl die besseren Geschichten als andere. Aber Händler erfinden nicht. Sie kopieren. Sie kopieren Kampagnen, Produkte-Angebote, Ladenkonzepte, Methoden, Prozesse und nehmen sich die gleichen vermeintlich einzigartigen Berater.

Und begeben sich damit in die grösstmögliche Abhängigkeit von ihren Zulieferern, Herstellern, Partnern, wie immer man das nennen mag. Händler sind Absatzmittler. Vermittler von Produkten gegen Umsätze für und von ihren Kunden.

Und sind so naturgemäss potentiell immer zu spät. Verständlich, oder? Wie soll mit dieser fundamentalen Orientierung an Externem je eine Entscheidung getroffen werden können? Bestimmt kommt noch einer, der es besser weiss, der noch einen Aspekt einbringt, den man bisher ausser Acht gelassen hat. Wenn Händler von Jägern zu Informationssammlern werden, dann kann das für eine Unternehmung unschöne Konsequenzen haben.

Haben Sie gewusst, dass die Händler die einzigen ohne nennenswerte Lobby oder Vertretung im Parlament sind? Immer in der Angst, dass der andere aufgrund des Erfahrungstransfers einen Vorteil daraus hätte, den man selbst nicht sofort im Gegenzug materialisieren kann? Und sich daher nicht effektiv austauschen und effizient organisieren.

Dieses etwas schöngefärbte "Wettbewerb belebt den Handel" hat auf dieser Stufe immer so funktioniert und durchaus auch gut. Bis zum Internet. Bis zum Online-Handel, wo Ingenieure, Mathematiker und Kreative das Geschäft übernommen haben. Wo ein neuer Level in diesem Online-Game erreicht wurde.

Wertvolle Lösungen schaffen.

Als ich in den späten 70igern als Teenager mit den Registern vom Z80-Prozessor im Hexadezimalcode meine erste Ampelsteuerung programmiert hatte, wurde mir rasch klar, wie Kreation in der Praxis funktioniert.

Auch ein Jahr später beim Stanzen der Lochkarten in Fortran 4 (jeder Programmbefehl wurde exakt auf einer Karte eingeprägt) wurde mir unmissverständlich klar, was Timing in der Programmierung bedeutet: Den Programmcode gestanzt, den Stapel Lochkarten beim Operating abgegeben, eine Woche später das Listing mit den Programmfehlern erhalten, nie etwas auf diesem alten IBM-Mainframerechner zum Laufen gebracht.

Dann im Studium den HP41C-Taschenrechner in etwas wie Basic programmiert, in der Diplomarbeit mathematische Ableitungen in Professional Fortran 77 umgesetzt, an der ersten Arbeitsstelle zuerst ETH-Wirth's Pascal, dann Modula 2 eingesetzt, dann mit Cobol in den kommerziellen Bereich gewechselt, stets parallel mit Assembler in Maschinencode lauffähigen Code gepatched und damit Fehler beim sich im Lauf befindlichen Grossrechner zügig ("on the fly") korrigiert. Dann mit C und C++ der Objektorientierung zusammen mit Client-Servier-Transaktionssystemen und SQL-Relationalen-Datenbanken gehuldigt.

Alles immer mit demselben Ansinnen: Problemerfassung, Lösungsdesign, Umsetzung. Top-Down eben.

Dann in der Umsetzung äusserst präzise im Einzelnen. Quasi wie "Retail is detail" in passender Handelsanalogie.

Alles perfekt optimiert auf minimalsten Code und rascheste Ausführung, nicht blosses Interpretieren unter Verschwendung von Systemressourcen, wie das heute mit HTML erstaunlicherweise wieder der Fall ist. Ich schmunzle jeweils innerlich, wenn die Youngsters trotz massiver Kapazitäten wieder einmal mit zu hohen Enduser-Responsezeiten konfrontiert sind.

Später sinnreiche Layermodelle konzipiert, die ich heute oft etwas vermisse. Nicht nur in der Technik. Auch im Business Process Reengineering.

Dann das erste offene Multiuser-Multitasking-Betriebssystem Unix bei Kunden eingeführt und später festgestellt, dass heute sowohl das iPhone wie auch die Macs in einer erweiterten Version damit funktionieren.

Von Jägern und Sammlern.

Komplex, meinen Sie? Natürlich. Nur im abstrahierten Gesamtüberblick überhaupt versteh- und handhabbar. Bei der nächsten Online-Generation werden nochmals einige Gänge runtergeschaltet und mit neuem Anlauf weitere unbekannte Galaxien bereist werden. Stichworte dazu sind beispielsweise globale Beschaffung, weltweiter B2C-Online-Verkauf, VR-Kauferlebnis.

Mit Online wird das also jetzt in der ganzen Breite und Wucht so gültig: Das Ganze ist ausschliesslich einer unternehmensweiten und gleichzeitig praktikablen Businesslösung mit einem systematischen konsequenten Top-Down-Ansatz von Jägern zuführbar. 

Und damit sind wir beim Kern der Sache. Händler funktionieren wie die Sammler Bottom-Up. Kommerzielle funktionieren so. Im Gegensatz zu den Techis, die den Gesamtzusammenhang kennen müssen, bevor sie eine Ebene tiefer einsteigen und auf Funktionsbibliotheken bauen und deren Eigenschaften gekonnt und sinnvoll in ihre Applikationen vererben können.

Meine Erfahrung im Einzelhandel ist es, dass die Leute verständlicherweise problemfokussiert und damit Bottom-up denken. Aus diesem Grund wird meines Erachtens auch für jedes Problem zuerst einmal eine isolierte Lösung, meist ein Tool, gesucht.

Untauglicher Strategie-Pragmatismus.

Dieser Pragmatismus ist im Betrieb wünschenswert, im strategischen Bereich meines Erachtens aber untauglich. Weil Pragmatismus viel mit Zufall zu tun hat und Strategie kein Zufallsprodukt ist. Weil die Komplexität durch Vernetzung kommt und heute nichts mehr unvernetzt ist. Weil falsche Prozesse nicht besser werden, wenn sie in bester Absicht qualitätssichernd dokumentiert werden.

Systembau ist zweifellos eine strategische Aufgabe. Lösungsbauer funktionieren daher so:

1. Klärung, wer überhaupt der Kunde ist und welche Bedürfnisse er hat.

2. Klärung, welche Marktleistung mit welchen Business-Ideen am Kunden erbracht werden und welche seiner Bedürfnisse in welcher Tiefe damit gedeckt werden sollen.

3. Klärung, mit welchem durchgängigem Konzept und Business-Modell sowie dem daraus abgeleiteten Vorgehensplan diese Business-Ideen beim Kunden kurz-/mittel- und langfristig eingeführt werden sollen.

4. Klärung der Metaebene und ihrer Funktionen, mit der die aus dem Konzept hervorgehenden zukünftigen USPs (Unique Selling Proposition, strategische Erfolgsposition) unternehmensweit garantiert werden sollen.

5. Klärung der Tools (oder Unternehmen, Systeme etc.), welche unterhalb der Metaebene integriert werden, welchen Beitrag sie zu leisten haben und in welchem Zeitrahmen diese die Umsetzung ermöglichen.

Einzelhandel der Zukunft.

Der Einzelhandel der Zukunft orientiert sich meines Erachtens an den folgenden drei kundenorientierten USPs:

  • Personal & Human Customer Relationship Management

  • Overall Digital Sales & Marketing

  • High Performance Products, Services & Logistics Platform Management

Während der Jahrtausendwende hat mit dem Internet, mit Online, eine technische Innovation das Leben der Gesellschaft grundlegend verändert. Viele hatten lange gehofft, dass sich dieses Phänomen irgendwie ignorieren lässt. Nach der ersten Dekade war es wohl aufgrund des rasanten Wachstums dem letzten Ewiggestrigen klar geworden, dass das Internet und damit auch der Online-Handel nicht mehr verschwinden würden.

Die Ingenieure waren im Begriff den Handel zu übernehmen. Die Händler trotzig beim Bewahren ihres Bewährten. Junge kreative Technikverständige bauten unbeschwert von bestehenden Dogmen den Handel der Zukunft mit einem systematischen Top-Down-Ansatz auf. Ob diese jungen Wilden tatsächlich bewusst oder einfach intuitiv diesen Gedanken gelebt haben, ist letztlich unerheblich. Aber sie orientierten sich zweifellos an Grundsätzlichem sowie den eigenen Bedürfnissen, die der Handel lange nicht abgedeckt hatte und feierten so bald eindrückliche Erfolge.

Top-Down ist kundenorientiert. Bottum-Up ist internorientiert.

digitec.ch spielt heute in derselben Liga mit, wie das die Bewährten drei oder vier inzwischen zu Omnichannel-Händlern mutierten ehemaligen Offliner tun. Trotzdem, ihre Offline-DNA bleibt zu stark spürbar. Sie kämpfen mit ihrer Vergangenheit. Ihrem Bewährten, das sie über Jahre mit viel Engagement aufgebaut haben und plötzlich zu einem Hinderungsfaktor wird. Nicht nur alte IT-Systeme werden hinderlich. Es ist in ihren Köpfen. Das nachvollziehbar fehlende neutrale und konsequente Verständnis für die Anforderungen der Zukunft mit ihrem einhergehenden, dramatischen Kulturwandel. Einer, der schmerzt und daher tatsächlich stattfindet.

Zalando macht wohl 2016 in der Schweiz rund 500 Millionen Schweizer Franken Umsatz und dominiert den Online-Fashion-Handel mit insgesamt vielleicht weiteren durch die CH-Händler erwirtschafteten 100 Millionen Umsatz klar. Zalando wird das auch zukünftig tun, denn sie werden ihren Vorsprung um keinen Preis aus der Hand geben. Der Fashion-Handel umfasst insgesamt heute rund 9 Milliarden CHF Umsatz.

An der dmexco (der Eingangs erwähnten Online-Marketing-Messe) wird für jeden Zweck irgendeine punktuelle Lösung angeboten. Manchmal sind diese Lösungen auch in Sorglos-Paketen zusammengefasst.

Die Händler schauen sich um und erhoffen sich durch den Einsatz solcher Lösungen, verlorene Zeit einholen, fehlendes Wissen kompensieren und so auf der Party mitfeiern zu können. So wie sie das seit Jahrhunderten mit den Produkten gekonnt getan haben.

Aber sie irren. Sie sind bloss Opfer einer Industrie, die sich ihre fehlende Kompetenz zu nutze macht und dabei gehörig Geld verdient. Sie begeben sich in eine tiefe Abhängigkeit, die mit den offenen Client-Server-Architekturen um die Jahrtausendwende hätte überwunden werden sollen. Gut, eigentlich ist auch dort die IBM-Dominanz nur der späteren SAP-Abhängigkeit gewichen. Nur ist dieser Sachzwang bei einer cleveren Architektur aufgrund vieler Anbieter heute so nicht mehr notwendig. Aber diese Anbieter müssen ausserordentlich sorgfältig ausgewählt werden und in das überliegende unternehmenskritische Meta-System passen und gleichzeitig jederzeit austauschbar sein.

Der Witz am Rande.

Noch eine Anekdote: Weil in der Online-Industrie mehrheitlich U35 unterwegs sind, wird Werbung primär auf die "jungen Zielgruppen" ausgerichtet. Eigentlich nachvollziehbar. Das, was einem am nächsten ist, ist einem einfach lieb.

Dass damit die Online-Werbung primär auf jene potentiellen Kunden konzentriert wird, die erst Geld für Produkte haben werden, wenn die werbetreibenden Firmen schon quasi bankrott sind, ist schon ein witziger Gedanke. Beinahe zynisch wird es, wenn etwas in die Jahre gekommene Hipsters dieses Credo immer noch mit grossen Augen mit runterbeten und offenbar noch nie etwas von den kaufkräftigen Golden Agers gehört haben.

Checken Sie aus: Wenn alle Spass an Ihrem Unternehmen haben, nur Sie selbst nicht. Weil Sie als einziger nicht wirklich toll dabei verdienen. Dann sind Sie ein solches Opfer.

Es führt kein Weg daran vorbei, aufgrund der Kundenbedürfnisse die eigenen Kernkompetenzen zu formulieren und diese gezielt in der eigenen Unternehmung aufzubauen. Mit ihnen wird es möglich sein, die überlebenswichtigen Visionen entwickeln und in einem systematischen Top-Down-Approach in die Tat umsetzen zu lassen.

Landet man am Flughafen in Köln, wird man mit den Worten "Willkommen in Bonn. Köln-Bonn." empfangen. Gesprochen in bester Manier vom Pierce Brosnan Bond-Synchronsprecher Frank Glaubrecht.

Wie Sie jetzt wissen, wende ich mich nicht nur wegen dieses sympathischen Grusses aus der Vergangenheit bei meinen Messebesuchen vermehrt Köln zu.

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smartmyway unterwegs.

(c) 2018: San Salvatore und Monte Generoso, Kanton Tessin, Schweiz. Foto: Maurizio Vogrig

 

Seit 2018 Chief Editor, Mitbegründer, Verwaltungsrat und Teilhaber von smartmyway, Autor, Coach, Mentor und Berater. Vorher als Geschäftsführer von Media Markt E-Commerce AG, Media Markt Basel AG, Microspot AG sowie in den Geschäftsleitungen von Interdiscount AG und NCR (Schweiz) AG tätig.

Experte für Digitalisierung, Digital-Business, Handel, Sales & Marketing, E-Commerce, Strategie, Geschäftsentwicklung, Transformationen, Turn Around, Innovation, Coaching, erneuerbare Energien, Medien, Professional Services, Category Management, Supply Chain Management