Der Knall zwischen Online und Offline ist laut.

Kirche der Zukunft. Im Handel knallen Online und Offline aufeinander. Aber so richtig.

Online, Offline, Gegenentwurf, Grünewiese-Ansatz, ein Luftschloss, und es beginnt zu denken.

Roland Voser, 26. August 2018

Die Krux mit dem Konzept und seinem Management.

Leopold Stiefel hatte mir vor Jahren auf einem Rundgang durch meinen Basler Media Markt Folgendes gesagt: "Wenn ein Markt funktioniert, dann ist es das Konzept. Wenn ein Markt nicht funktioniert, dann ist es der Geschäftsführer."

Auf internetwelt.de beschreibt Alexander Graf Ursachen über Macy's potentielles Scheitern mit Multichannel (leider ist der Artikel nicht mehr verfügbar). Eine pointierte Position, denn Macy's ist (oder war) offenbar die Multichannel-Vorzeigeunternehmung in den Vereinigten Staaten.

Spannend wäre bei Macy's so gesehen also die Frage, ob mit Multichannel das Konzept an sich gescheitert oder ob dem Managment dessen Umsetzung misslungen ist.

Etwas Offline-Gewusstwie.

Ich will nicht weiter bewerten, ob sich bei einer Basis von gegen 900 POS mit einer Schliessung von 40 Stores tatsächlich bereits Grundsätzliches angebahnt hat und sich damit erste dunkle Gewitterwolken am Horizont zeigen. Denn es liegt in der Natur der Sache, dass jede kräftige Expansion im Zuge der normalen Verkaufsstellenoptimierung über die Zeit auch zu schliessende Standorte verursacht.

Und wenn Offliner etwas wissen, dann, dass unprofitable Standorte über die Zeit zwar langsam, aber umso nachhaltiger ansteckendes Gift für das ganze Filialgeschäft sind.

Weil das Filialgeschäft darauf fusst, dass jede Filiale einen kleinen Deckungsbeitrag liefert, der in der Summe über die ganze Unternehmung substantiell wird. Filialen sind in ihrer perfekten Form möglichst gleiche und damit einfach multiplizierbare Einheiten.

Die damit einhergehende Prozessoptimierung an der Front reduziert deutlich die Kosten pro Filiale und etwas zusätzlich befeuerte Kundenfrequenz lässt die an sich tiefe Umsatzrendite von einigen Prozent spürbar wachsen.

Auf der Zentralenseite werden für die Filialen standardisierte Dienstleistungen erbracht, die sich aufgrund des Skaleneffekts umso besser rechnen, je mehr Filialen am Netz hängen. Auch unter diesen Gesichtspunkten wird oft auf eine Schliessung verzichtet.

Spezialfälle produzieren risikobehaftete Zusatzaufwendungen, die die hochkostenoptimierte und damit sehr labile Profitablität aus dem Lot bringen können: Die Transaktionskosten laufen aus dem Ruder.

So entscheiden sich Erfolg oder Misserfolg einer Detailhandelsunternehmung zum Beispiel bei der Retourenhandhabung. Einfachheit muss eine Maxime sein, denn in einem Dienstleistungsgeschäft kann zwar die Logistik vereinheitlicht werden, aber wie wird garantiert, dass die Menschen am Kunden erbrachte Dienstleistungen von Genf bis St. Gallen zu einem gleichen Preis exakt gleich erbringen?

Das zentral geführte Filialgeschäft charakterisiert sich also durch Einheitlichkeit, Einfachheit und Multiplikation. Bündelung der Kräfte und eine konsequente Ausrichtung am nationalen Markt erhöht die unternehmerische Wirkung.

Dazu Interdiscount.

Dazu das Beispiel Interdiscount. Rund 200 Filialen in der Schweiz mit einem Sortiment von vielleicht 5'000 im Laden physisch verfügbaren Artikeln auf einer Fläche von je etwa je 300 m2.

Für dieses Gedankenexperiment soll die Handvoll grösserer XXL-Läden ausser Acht gelassen werden. Die Leistung am Kunden sind Kundennähe (denn quasi in jeder 10. Gemeinde der Schweiz befindet sich eine ID-Filiale), vorselektioniertes Sortiment (denn der Kunde soll nicht den Überblick verlieren) und Kundenberatung (denn oft kennt man sich im Ort nahezu persönlich, die Filiale partizipiert am Quartierleben).

Gegenentwurf Media Markt.

Was aber tun, wenn die Komplexität zunimmt? Hier spielt Media Markt den stationären Gegenentwurf. Rund 20-30 Märkte in der Schweiz mit 45'000 Artikeln auf einer Fläche von vielleicht 2000 bis 4000 m2. Die Leistungen sind grösste physische Auswahl (denn der Kunde soll alles finden und ausprobieren können), Top-Verfügbarkeit (denn der Laden ist quasi das Lager) und Fachberatung (denn die MitarbeiterInnen kennen sich in ihrer Abteilung gut aus und geben dieses Wissen dem Kunden weiter).

Das dezentral geführte Filialgeschäft zeichnet sich somit durch Autonomie, Fachkompetenz und Agilität im lokalen Markt aus. Die Komplexität der Grösse wird durch eine Aufteilung des Geschäfts auf die einzelnen Häuser reduziert, die möglichst in unternehmerischer Freiheit, also unkoordiniert untereinander und damit zum Vorteil für den Kunden für Mitbewerber unberechenbar agieren.

Beide Ansätze haben offensichtlich gut funktioniert: Beide Unternehmen kämpfen ernstzunehmend im Schweizer Markt.

Störfaktor Online.

Die Branche hätte dies unverändert auch weiter tun können, wenn mit dem Erstarken von Online nicht vor einigen Jahren ein bedeutender Auslöser diesen Geschäftszyklus empfindlich gestört hätte. Multichannel - also das wie auch immer gestaltete Ausnützen aller möglichen Verbindungskanäle zum Kunden hin, egal ob online oder offline - war rasch die Antwort auf diese Veränderung. Begriffe wie Cross-Channel und Omnichannel sind in diesem Kontext noch Schattierungen vom Gleichen.

Und damit sind wir wieder bei Macy's angelangt.

Der Grünewiese-Ansatz.

Statt jetzt eine Bewertung der Umsetzung des Multichannel-Konzepts bei Macy's oder bei Schweizer Retailern vorzunehmen, ist es inspirierender, sich Gedanken über einen "Grünewiese"-Approach zu machen. Mit grosser Wahrscheinlichkeit haben sich schon gescheitere Leute ihre Köpfe über die Zukunft zerbrochen. Darf ich es trotzdem versuchen?

Für die Schweiz nehme ich in dieser Dekade folgende gesellschaftliche Trends an, die aufgrund ihrer Massenausprägung den Detail- bzw. Einzelhandel in der Schweiz spürbar beeinflussen werden.

1. Es gibt mehr Menschen in der Schweiz.

Langfristig wird dem Migrationsdruck nicht auszuweichen sein, denn das reichste Land der Erde wird im relativen Vergleich nie substantiell an Attraktivität einbüssen. Wenn mir eine 25-jährige top-ausgebildete Britin sagt, dass sie es aus Sicherheitsüberlegungen vorzieht, in der Schweiz zu arbeiten, dann muss dem nichts mehr beigefügt werden.

2. Es gibt mehr ältere zahlungskräftige Menschen in der Schweiz.

Meine Generation der Baby Boomers wird bald zu den Golden Agers. Uns hat es nie wirklich an etwas gefehlt. Wir haben gespart, vom ersten Tag voll in die Sozialwerke einbezahlt, wollen unser letztes Drittel des Lebens aktiv geniessen und geben unser Geld auch aus. Wir müssen nicht mehr für eine spätere Generation sparen, weil unsere Nachfolger bereits gut situiert sind.

3. Es gibt mehr alte pflegebedürftige Menschen.

Bekannterweise fehlen dort die Fachkräfte. Andererseits werden viele Jobs in der heutigen Form nicht mehr gebraucht. Wer steht noch an der Migros-Kasse an, wenn er gleichzeitig ein Selfscanning-System benützen kann? Neues lernen wird eine neue Bedeutung erreichen. Die traditionellen Laufbahnen werden sich auflösen. Modulartige Lehrgänge werden die Menschen in ihrem Arbeitsleben begleiten. Neue Modelle wie eine 10-jährige Lehre, verteilt über das halbe Leben, mit individueller Ausbildung, unterschiedlichen Fähigkeiten und Abschlüssen, kombiniert mit praktischer Erfahrung werden utopische Ideen wie das bedingungslose Grundeinkommen ablösen.

4. Der Infrastrukturdruck nimmt zu.

Die Leute müssen pendeln, weil Eigentum und Wohnungen in den Zentren nicht bezahlbar sind oder deren Lebensqualität für bestimmte Lebensabschnitte unzumutbar wird. Der Verkehr nimmt zu. Lenkungsmassnahmen werden die Leute von zu Hause arbeiten lassen. Individuelle Fortbewegung kommt an die Grenze und wird teurer werden. Die fehlende Mobilität wird durch Dritte kompensiert: Die Post bringt den Einkauf, wenn ich selbst nicht mehr einkaufen gehe.

5. Der Zeitdruck nimmt zu.

Neben der realen Welt hat sich eine virtuelle Welt manifestiert, die ihren signifikanten Zeitanteil von den Menschen beansprucht. Wie viel Zeit benötigt der ordentliche und professionelle Unterhalt eines Linkedin-Profils? Welche Unternehmung akzeptiert Bewerbungen noch in brieflicher Form? Die Menschen unterhalten diese virtuelle Welt durchaus gerne und freiwillig, denn sie können damit im Beziehungsmanagement Zeit sparen und fehlende Mobilität einfach ausgleichen.

6. Weltweit tätige Anbieter werden greifbar.

Online im westlichen Ausland einkaufen, hat jeder schon getan. Wenn via Ebay eine Vorsatzlinse für eine Spiegelreflexkamera für 39.- innert 7 Tagen ohne Versandkosten in die Schweiz geliefert wird, dann werden für die Konsumenten die weltweiten Anbieter attraktiv. Das richtige Zahlungsmittel, die richtige Logistik und die entsprechende Deregulierung - und bereit ist der weltweite B2C-Handel. Die Schweiz sollte sich heute die Frage stellen, wie sie zukünftig ihre Produkte online in Australien anbieten könnte.

7. Der Turm zu Babel muss gebaut werden.

Wenn in der Schweiz heute 2 Millionen Ausländer leben und die Bevölkerung unter Berücksichtigung der Einbürgerungen der letzten 15 Jahre also rund 50% Menschen mit ausländischen Wurzeln beheimatet, dann sollten wir uns über Sprache, Kommunikation, Werte und Kultur fundamental neue Gedanken machen. Die aus den Fugen geratene EU lebt vor, wie die Widersprüche der verschiedenen Kulturen bei gröberen Schwierigkeiten jede der zentral diktierten und zweifellos einmal in bester Übereinstimmung getroffenen Abmachungen zunichte machen und offenbar nur die Haltung einzelner Nationalstaaten und deren Abmachungen untereinander wieder stabile Situationen ermöglichen. Wie soll die Schweiz mit diesem erzwungenen Wertewandel umgehen. Was ist konsequent zu bewahren, was zu ändern?

Charakterisierung der grünen Wiese.

Fehlen noch Trends? Wie auch immer - wie sähe die "Grünewiese"-Detailhandelsunternehmung, die diesen Trends am besten Rechnung tragen könnte, aus?

  1. Sie stünde für eine positive Lebenseinstellung, d.h. ein angenehmer Lebensstil, Verbindlichkeit, Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit. Die Verbindung der Kulturen mit einer starken Verwurzelung in der lokalen Tradition, beispielsweise der Swissness, wäre ihr ein grosses Anliegen.

  2. Sie wäre fachkompetent und damit ernstzunehmend, ein europaweit agierender Fachmarkt und kein regionaler Marktplatz. Mit starken, auf die Metropolregionen bezogenen Ausprägungen und kein nationaler Anbieter.

  3. Sie hätte Online die grösste Auswahl aus ihrem Fachbereich. Offline die Produkte zum Erleben.

  4. Sie hätte die Preisführerschaft, europaweit dieselben Produktepreise und je nach Ort unterschiedliche Dienstleistungspreise.

  5. Sie hätte einen Online-Shop, mindestens wie Zalando, transparent über ganz Europa. In allen Sprachen Europas.

  6. Sie hätte pro 2.5-10 Millionen Einwohner je nach Landesgrösse einen Flagship-Store mit einer einmaligen Marktleistung wie ein Apple Store und einer starken lokalen Verankerung.

  7. Pro vielleicht 100'000 Einwohner logistische Hubs für Abholung, Drive-in, Service-Points.

  8. Sie würde die 5-10% besten Kunden persönlich online- und/oder offline betreuen und dafür sorgen, dass treue Kunden am besten mit ihr fahren.

  9. Sie würde soziales Engagement zeigen, substantiell Kulturengagement tätigen und eine starke Initiative auf ältere Menschen ausrichten.

  10. Sie würde weltweit beschaffen und mit den besten Logistikpartnern zusammarbeiten.

  11. Sie hätte ihr Hauptquartier in der Schweiz. Die besten Leute arbeiten nicht im Irgendwo.

Sonst noch was? Wer würde mit mir diese Unternehmung aufbauen wollen? 

Wir würden miteinander ein Luftschloss bauen, meinen Sie? Ja, das trifft natürlich bei einem Gedankenexperiment immer zu. Gleichzeitig erinnere ich mich an Raumschiff Enterprise, wo Kirk in den 60igern vermeintlich "Beam me up, Scotty!" in ein Handgerät mit aufgeklebtem Konterfei desselben gerufen haben soll. Heute rennt jeder Fünfjährige mit seinem iPhone rum und skyped mit Allem und Jedem. Für das erwähnte Schloss wird es nicht 50 Jahre benötigen. Diese Kirche wird wohl innerhalb von 5 Jahren gebaut werden können. Vielleicht auch weniger.

Oder anders gesagt - der wahre Online-Tsunami kommt erst noch.

P.S. Macy's liefert heute in die Schweiz.
P.P.S. In welche Logistik-Firma sollte man heute investieren?

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smartmyway unterwegs.

(c) 2018: Chiesa di Sant'Ilario, Bioggio, Kanton Tessin, Schweiz. Foto: Roland Voser

 

Seit 2018 Chief Editor, Mitbegründer, Verwaltungsrat und Teilhaber von smartmyway, Autor, Coach, Mentor und Berater. Vorher als Geschäftsführer von Media Markt E-Commerce AG, Media Markt Basel AG, Microspot AG sowie in den Geschäftsleitungen von Interdiscount AG und NCR (Schweiz) AG tätig.

Experte für Digitalisierung, Digital-Business, Handel, Sales & Marketing, E-Commerce, Strategie, Geschäftsentwicklung, Transformationen, Turn Around, Innovation, Coaching, erneuerbare Energien, Medien, Professional Services, Category Management, Supply Chain Management