Wir wollen uns nicht verändern! Versteht das endlich!

Von Betroffenen und Beteiligten und den Mächtigen. Wieso Beteiligte dauernd ändern und Betroffene das nicht wollen.

Wenn die Veränderung auf dem Mist des Managements gewachsen ist, dann muss ausgemistet werden. Alle reden vom Wandel. Doch in was und wie sollen wir uns bloss verwandeln?

Roland Voser, 28. August 2018

Alles verändert sich.

Vor Jahren sagte mal mein Chef, damals CEO einer grösseren Detailhandelsunternehmung, mit einem Augenzwinkern: "In dieser Firma ist es zu ruhig, es läuft alles zu rund. Da sollte man mal eine Bombe reinwerfen und schauen, was passiert!" Diese Aussage war politisch gewiss nicht ganz korrekt, aber sie zeigte mir einen grossen Widerspruch in den Unternehmen zwischen Management und Belegschaft auf.

Der Widerspruch.

  1. Das Management will steten Fortschritt, lanciert somit ein Projekt nach dem anderen und fühlt sich erst wohl, wenn quasi kein Stein auf dem anderen bleibt, die ganze Belegschaft, emsig und wie Ameisen beschäftigt, das Unternehmen umbaut und in einen neuen Zustand überführt.

  2. Die Mitarbeiter wollen möglichst das tun, was sie schon immer tun. Nämlich ihre Arbeit, notabene das Kerngeschäft der Unternehmung. Mit möglichst wenig Störfaktoren von aussen, also möglichst wenig Veränderung, also möglichst keine Projekte, die zur normalen Arbeit geschultert werden müssen.

Detailhandelsunternehmen funktionieren nicht zwingend streng prozessorientiert, aber in jedem Fall hoch routinemässig. Jeder Berater sollte sich dessen bewusst sein und besser von Retailern lassen, wenn er das nicht aus persönlicher Erfahrungen kennengelernt hat. Wahrscheinlich ein Wunschdenken, denn es würde bedeuten, dass Externe einige Wochen im Laden an der Front oder im Lager in der Zentrale mitzuarbeiten hätten.

Die Routine.

Ich habe das jahrelang mit meinem Team getan. War vorher ebenso lange im Projektgeschäft tätig und ertappte mich bald dabei, wie ich unglücklich wurde, wenn ich am Morgen nach dem Begrüssungsritual und dem anschliessenden Kaffee nicht die Umsatzzahlen studieren konnte, sondern an irgendeinem Meeting im Hauptquartier teilzunehmen hatte. Soweit war es also schon mit mir gekommen? Nein, so funktionieren Vollblutdetailhändler.

Merke: MitarbeiterInnen, die gerne an Meetings in die Zentrale gehen, sind meist in ihrem Job unglücklich und fühlen sich primär in ihrer ausführenden Fronttätigkeit zu wenig anerkannt.

Der Veränderungswille.

Shareholder belohnen aber meist den Veränderungswillen des Managements und nicht die volle Konzentration der Belegschaft auf das angestammte Geschäft, das notabene die (noch vorhandenen) Profite einfährt. 

Nicht, dass Shareholder nicht verstünden, worum es geht. Vielmehr erwarten sie vom Management, dass dieses sehr wohl weiss, wenn eine Veränderung unumgänglich wird und somit vorausschauend zum Wohle der Unternehmung operiert werden muss.

Die Urteilsfähigkeit.

Inwiefern das Management zu dieser Beurteilung der Notwendigkeit einer Veränderung tatsächlich in der Lage ist, mag an anderer Stelle beleuchtet werden.

Vielleicht nur soviel: Auch Manager sind Menschen, die genauso viele Fehler machen wie ihre Mitarbeiter. Nur haben ihre Fehler grössere Wirkung, ja manchmal tragische Tragweite. So gesehen habe ich durchaus unterschiedliche Grade bei der kritischen Selbstbeurteilung und anschliessenden Ehrlichkeit gegenüber der Belegschaft kennengelernt.

Bei den Chefs war es wohl eine Handvoll, die jeweils in einer oder zwei Disziplinen wirklich genial waren.

Die Diagnose.

Es geht also bei Veränderungen um Operationen. Der Patient Unternehmen erhält eine Diagnose, und die Behandlung kann sehr komplex sein und in der Regel auch schmerzhaft werden. Denn Veränderung ohne Schmerz ist keine Veränderung, sondern nur die Optimierung einer bereits vorhandenen Wohlfühlzone. Aber Veränderung immer in der Hoffnung, dass der Vorgang letztlich für die Unternehmung heilsam wird.

Doch wer soll nun die Diagnose stellen?

  • Das Management, das neben Unternehmenszielen natürlicherweise auch die eigene Profitabilität optimiert?

  • Die Belegschaft, die nicht wirklich etwas verändern will, wenn es um die eigene Arbeit und den eigenen Arbeitsplatz geht?

  • Die Berater, die die Unternehmung und oft auch das Geschäft nicht wirklich verstehen?

Ein echtes Dilemma. Empfehlenswert ist hierfür die Einsetzung eines möglichst unabhängigen und interdisziplinären Teams, das gemeinsam die Diagnose stellt und entscheidet, ob Handeln und damit Veränderung angesagt ist.

Oder man nimmt den Kunden als in der Tat einzig relevante Instanz, nicht wahr? Customer Centricity ist das Stichwort dazu.

Die Veränderung.

Was heisst jetzt Veränderung? Sie bedeutet eine Zustandsänderung. Eine Änderung in einen "besseren" Zustand, also in einen neuen Soll-Zustand.

Die Diagnose für den Ist-Zustand ist also nicht länger erfolgsversprechend. Dessen Fortführung hat eine weitere Verschlechterung oder bestenfalls Stagnation zur Folge. Letzteres ist in der Praxis eine Ausnahme. Im Zuge der Digitalisierung werden Exit-Szenarien wahrscheinlich.

Die Varianten.

Viele Wege führen nach Rom. Aber nur einer ist der Beste. Strategische Denkweisen messen diesem Findungsprozess grosse Bedeutung zu, denn die Wahl der richtigen Variante entscheidet über die Erfolgschance der ganzen Unternehmung.

Also werden von den Fachleuten die verschiedenen Varianten entwickelt, bewertet und eine Variante dem Management begründet empfohlen. Dieses folgt in der Regel der Empfehlung oder hat gute Gründe, es nicht zu tun.

Auch im Zuge agiler Vorgehensmethoden - ich sage dem heute "scrum for business" - sind erarbeitete und mit einer Empfehlung versehene Varianten unabdingbar. Zielpublikum ist dann aber weniger ein von der Materie entferntes Management, sonder das Scrum-Team, das alle notwendigen Kompetenzen zur Bewältigung der anstehenden Geländekammer umfasst.

Der Vorgehensplan.

Vom Ist-Zustand zum Soll-Zustand gelangt man, indem die richtigen Massnahmen in der richtigen Abfolge geplant und umgesetzt werden. Ein idealer Verlauf führt stufenweise und direkt zum Ziel. Der Vorgehensplan umfasst die notwendigen, jetzt mit konkreten Terminen versehenen Massnahmen.

Das Risiko.

Diese rationale Schiene der Massnahmen kann systematisch vollzogen und damit ihre positive Wirkung massgeblich beeinflusst werden. 

Im Veränderungsprozess gibt es nun zusätzlich eine zweite, emotionale Schiene.

Wir alle reagieren bei Veränderungsandrohung zuerst einmal zurückhaltend, oft frustriert und durchaus im Innern auch stark verunsichert. Ja, mehr noch: Statt dass sich die Situation nun verbessern würde, verschlechtert sie sich für jeden Einzelnen zuerst einmal spürbar und mit all den Zusatzarbeiten auch real massiv. Die Haltung der Betroffenen ist verständlicherweise destruktiv geprägt, ihr Verhalten verdeckt und unberechenbar.

Die Menschen wandern durch ihr individuelles Tal der Tränen.

Für jeden Betroffenen dauert diese Phase für jeden Anlass unterschiedlich lang und hat je nach persönlicher Lebensituation unterschiedlich starke Ausprägung. Ältere Menschen werden auf eine Ankündigung schockiert reagieren, während Jüngere der gleichen Sache ziemlich neutral gegenüber stehen werden.

Die Treiber der Veränderung nehmen dann meist Schweigen als Zustimmung wahr, weil dies der Regel in der Normalsituation - "solange nichts gesagt wird, ist alles gut" - entspricht.

Im Veränderungsmodus kann Stillschweigen potentielle Komplettablehnung, vollständiger Rückzug und damit das pure Gegenteil bedeuten. 

Jedes sorgfältige Change-Management wird sich dieser zweiten "Kultur-" Schiene besonders annehmen. Dies im Wissen, dass erst mit dem Eintreten echter Veränderungsbereitschaft der Menschen die Konstruktivität in den Übergang zurückkehrt, die für die erfolgreiche gemeinsame Erfüllung der genannten rationalen Massnahmen unabdingbar ist.

Die Kulturdimension.

Als junger Manager stand ich dieser Dimension eher zurückhaltend gegenüber. Sie war mir einfach zu zwiespältig, und ich versuchte ihrer Unberechenbarkeit mittels klarerer Auftragsteilung und direkter Führung zu begegnen. Dies hat oft auch zum Ziel geführt.

Heute setze ich die Mittel dazu gezielt ein. Coaching hat sich gerade beim mittleren Management zwischen 35-45 bewährt, weil sich diese Führungskraft ernsthaft mit sich selbst auseinandersetzen und vertrauensvoll mit einem Profi austauschen kann, ohne dass sie sich dabei manipulieren liesse.

Supervision bzw. neutrale Vermittlung in Konfliktsituationen oder Moderation und Rollenabsprache in anspruchsvollen Verhandlungen sind weitere Beispiele, wie flankierend emotionale Hindernisse eruiert und ausgeräumt werden können.

Bei mir gehört es zum Standard jedes Workshops, dass am Schluss ein Zufriedenheitsmeter erstellt wird, wo jeder beispielsweise sein Befinden auf der Skala von 1 bis 10 bekundet. Diese - durchaus auch anonym mögliche - Art des Feedbacks ist einfach und wirkungsvoll und folgt der NPS-Theorie (Net Promotor Score zur Kundenzufriedenheit). 

Und last but not least gibt's bei jedem Meeting eine Umfrage, wo jeder Teilnehmer persönlich aufgerufen wird, ob noch offene Punkte vorhanden wären. Mit diesem fairen Aufruf zur Meinungsäusserung wird die problematische Schweigespirale zumindest ansatzweise durchbrochen und ein konstruktives Klima in gegenseitigem Respekt gefördert.

Alles verändert sich.

Aber niemand will sich im Grunde seiner Selbst tatsächlich verändern. Wieso auch? Veränderungsbedarf wird erfahrungsgemäss denn auch zuerst bei den Anderen ausgemacht. Dort natürlich schon.

Aber jeder fühlt sich in seinem eigenen frei gewählten Sein grundsätzlich wohl, denn sonst hätte er in der Schweiz jederzeit die Freiheit, vom Arbeitsplatz aufzustehen und die Firma zu verlassen. Jeder hat die Wahl, Nein zu sagen und zu gehen. Aber alle hier sind noch da.

Ob sie auch zufrieden sind?

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smartmyway unterwegs.

(c) 2018: Hinweis auf Coop, Breno, Kanton Tessin, Schweiz. Foto: Roland Voser

 

Seit 2018 Chief Editor, Mitbegründer, Verwaltungsrat und Teilhaber von smartmyway, Autor, Coach, Mentor und Berater. Vorher als Geschäftsführer von Media Markt E-Commerce AG, Media Markt Basel AG, Microspot AG sowie in den Geschäftsleitungen von Interdiscount AG und NCR (Schweiz) AG tätig.

Experte für Digitalisierung, Digital-Business, Handel, Sales & Marketing, E-Commerce, Strategie, Geschäftsentwicklung, Transformationen, Turn Around, Innovation, Coaching, erneuerbare Energien, Medien, Professional Services, Category Management, Supply Chain Management