Leseprobe 1: “Kleine Welt im Tessin”.

Leseprobe Tagebuch 1: “Kleine Welt im Tessin”.

Jedes Leben ist eine einmalige Geschichte. Wir schreiben sie selbst und finden Inspiration in den Kapiteln anderer Menschen. Ein besonderer Mensch war Kathrin Rüegg, eine starke, erfolgreiche und bemerkenswerte Frau, die als Anfangvierzigerin ihr Leben komplett geändert und einen Neubeginn im Tessin gewagt hat. Hier geben wir Einblick in Kathrins Geschichte.

Maurizio Vogrig, 30. September 2020

Dort, in diesem wunderbaren Stück Italianità im Süden der Schweiz und mitten im Herzen Europas. Nichts und Niemand hat sie von ihrem neuen Lebensweg abgebracht. Die dabei erlebten Geschichten hat sie aufgeschrieben und bald veröffentlicht: Ihre Tagebücher haben Millionen Lesende gefunden, die damit ein wenig ihre Sehnsucht nach dem einfachen Leben in der Natur stillen konnten.

Für uns Grund genug, diese Geschichten wieder weltweit den Menschen zu erzählen und sie an der kleinen Welt im Tessin aus der Ferne und doch sehr nahe teilhaben zu lassen. Wir wünschen Ihnen gute Unterhaltung mit dem ersten Band der Tessiner Tagebücher von Kathrin Rüegg. Mit ihrer kleinen Welt im Tessin, wo Sie jetzt auch Teil davon werden.

Wir freuen uns! Mit herzlichen Tessiner Grüssen! Hier beginnt sie, die erste Geschichte von Kathrin.



Tessiner Tagebuch Band 1:

Kleine Welt im Tessin


Vorspiel

Es beginnt mit einem Schlußstrich 

Am dreißigsten April neunzehnhunderteinundsiebzig, abends um zehn Uhr vierundzwanzig, beschloss ich, mein Leben zu ändern.

Ich war einundvierzig Jahre alt, ledig, gesund, etwas zu dick, hatte eine Manie, alles in genaue Zahlen oder Listen zu fassen, ließ mir meine Haare rotblond färben und galt mit meinem stadtbekannten Einrichtungsgeschäft als gutverdienende Karrierefrau.

Aber ich hatte genug!

„Genug haben“ hat zwei ganz verschiedene Bedeutungen, je nachdem man das erste oder das zweite Wort betont.

Ich hatte genug von der Hetze nach mehr und mehr Geld. Immer höhere Mietzinsen, die steigenden Löhne für meine sechs Angestellten und meine jedes Jahr luxuriöser werdende Lebenshaltung zwangen mich zu bald unerträglichen Arbeitsleistungen.

Ich hatte auch genug von verstopften Autostraßen, überfüllten Parkplätzen, zu rasch eingenommenen Mahlzeiten in verrauchten Restaurants, von nach Benzin und Öl stinkender Luft, von hastenden Menschen und zuckenden Leuchtreklamen.

So setzte ich mich an jenem Abend hin und notierte mir auf einem Zettelchen, worauf ich eigentlich verzichten könnte. Das Zettelchen habe ich immer noch, und die einzelnen Punkte stimmen auch heute. Ich kann entbehren:

Leben in der Stadt im allgemeinen

Elegante Kleider

Friseur

Kosmetiksalon

Teures Auto

Flugreisen

Hotelferien

Reiten und Skifahren

Kino

Wenn ich ganz einfach lebte, hatte ich genug finanzielle Mittel, um meinen Traum zu verwirklichen. Seit mehr als einem Jahr besaß ich einen kostbaren Schatz, der darauf wartete, daß ich ihn endlich hebe – den Monte Valdo!

Kein Haus zu verkaufen – oder doch? 

Eigentlich sollte ich es niemandem verraten: Ferien im Acquaverde-Tal sind zu jeder Jahreszeit ein ganz einmaliges Erlebnis.

Seit acht Jahren floh ich bei jeder Gelegenheit aus der Stadt nach Froda, in mein Tessiner Dorf. Alle sechsundzwanzig Einwohner kannten mich so gut, daß sie mich „er Caterina“ – die Kathrin – nannten. Ich wußte von den meisten nur den Vornamen und lernte an langen Winterabenden am Kaminfeuer ihre Lebensgeschichten kennen.

Seit etlichen Jahren schon wollte ich irgendwo in der Gegend eines der alten Häuser kaufen. Aber das ist gar nicht so einfach. Wohl sind viele Dörfer halb ausgestorben, weil ihre Bewohner vor zwanzig, dreißig und noch mehr Jahren nach Übersee auswanderten, doch die Besitzer der alten Gebäude ausfindig zu machen, ist enorm schwierig. Durch Erbteilungen gehören zum Beispiel die Küche und das Wohnzimmer eines Hauses der Giuseppina in Pasadena, der Keller dem Rico in Montevideo und die Schlafzimmer dem Silvio. Er lebt hier im Dorf und möchte seinen Hausanteil gerne verkaufen.

Nach zwei Jahren vergeblicher Suche dachte ich kaum mehr an meine Pläne.

In der Stadt tobte der Karneval. Ich verzog mich nach Froda. Dort wohne ich stets bei Maria, die ein paar Fremdenzimmer vermietet und Wintergäste am liebsten sieht. Die bringen gefundenes Geld, denn im Sommer ist ohnehin jedes Bett im Tal besetzt.

„Du hast Besuch“, rief sie mich schon früh am ersten Morgen. „Guido will dich sprechen.“

Guido war in jungen Jahren Holzfäller, wanderte nach Amerika aus und machte dort ein kleines Vermögen. Nach Froda heimgekehrt, bezog er eine Versicherungsrente und vertrat eine Bierbrauerei. Er war wortkarg, hatte krauses Grauhaar und wachsame, ein bisschen misstrauische Augen. Seine im ganzen Dorf bekannte Vorliebe für Geheimnistuerei machte ihn oft unbeliebt. Wir zwei kamen gut miteinander aus, weil ich ihm seine Geheimnisse ließ und nicht viel fragte.

„Du mußt gute Schuhe und alte Kleider anziehen und mitkommen. Ich habe eine Überraschung für dich.“ Ich gehorchte. Maria schalt mich, weil ich fortging, ohne den Frühstückskaffee auszutrinken.

Wir bestiegen „la mia Peschù“, wie Guido seinen klapprigen Peugeot stets zärtlich nannte, und fuhren talabwärts. In San Michele zweigten wir wieder gegen den Hang ab, durchquerten ein paar Dörfchen. Das Auto keuchte über ein kleines Sträßlein unzähligen Kurven entlang durch einen immer dichter werdenden Kastanienwald aufwärts, aufwärts, aufwärts – fast bis in den Himmel.

Wir überquerten die Brücke des Valle della Colera – des Choleratals – und langten bald auf einer kleinen Ebene an. Dort bog Guido von der Straße ab und hieß mich aussteigen. Er drückte mir ein sichelartiges, schweres Messer – eine Falce – in die Hand und stapfte über einen kaum erkennbaren Fußweg durch raschelndes, hellbraunes Laub schräg abwärts in den Wald. Es standen Kastanien darin, so dick, daß drei, vier erwachsene Personen nötig gewesen wären, um ihren Stamm zu umarmen. Die Bäume waren teilweise hohl und hätten spielenden Kindern herrliche Verstecke für spannende lndianerkämpfe geboten.

Der Weg wandte sich in einer scharfen Kurve zurück in die Richtung gegen das Valle della Colera, ging zwei­ oder dreihundert Meter fast geradeaus dem Hang entlang. Unter mir sah ich durch die Baumstämme die grauen Granitdächer einiger Häuser schimmern.

Unser Pfad wurde steinig, links stiegen mächtige Fels­brocken auf. Wir gingen im Zickzack abwärts und schließlich auf einem letzten, wiederum waagrechten Stück geradewegs auf die Häuser zu.

Meine geheime Hoffnung schien sich zu erfüllen. Guido brachte mich zu einem verkäuflichen Haus. Aber ich mußte meine Ungeduld noch eine ganze Weile zügeln. Der letzte Wegrest war zugewachsen mit einem gut zwei Meter hohen Gewirr von Brombeerranken und Ginster. Ginsterholz ist entsetzlich zäh, und trockene Brombeerdornen stechen grausam. Wir schlugen mit unseren Falci einen Durchgang und gelangten mit zerrissenen Kleidern und zerrauften Haaren auf einen kleinen, von vier Gebäuden umgebenen Platz. 

Guido stieg über ein Treppchen zur Türe des Hauses, das die Jahrzahl 1794 trug. Er begann, die aus ungemörtelten Steinen gefügte Mauer abzutasten.

„Rechts von der Türe in der Mauer gegen Bellinzona, hat sie gesagt“, murmelte er. Er zog hie und da ein Steinchen aus der Mauer. Nach einigem Suchen hielt er mir einen riesengroßen, rostigen Schlüssel unter die Nase.

„Ecco, da wäre er.“

Er steckte ihn ins Schloss und drehte ihn mit einiger Kraftanstrengung. Dann mußte er einen Bolzen lösen und einen fast halbmeterlangen, dicken Eisenriegel zu­rückziehen. Erst jetzt ließ sich die Türe aufstoßen. Sie knarrte und knirschte.

An der gegenüberliegenden Wand des großen Raumes war ein Kamin. Eine Kette hing darin. Es standen zwei rußige Polentapfannen da, vier oder fünf Zoccoli lagen herum und eine vergilbte Zeitung mit dem Datum 29. September 1928. In einem Winkel standen zwei mit Heu gefüllte Betten.

Mehr konnte ich nicht erkennen, denn Decke und Wände waren schwarz von Ruß und Alter. Die Fenster waren mit Spinnweben so dicht verhüllt, daß eigentlich nur die offene Türe Licht spendete.

Guido kramte, während ich mich umschaute, in einer Ecke herum und hielt schließlich einen ganzen Bund dieser großen Schlüssel in der Hand.

„Nem – komm!“

Ich sagte nichts, ging nur folgsam hinter ihm drein und staunte.

Im untern Haus gab es ebenfalls einen Raum mit Kamin, hübsche kleine Nischen in den Mauern, eine lange, dunkle Truhe, ein sehr breites und sehr kurzes Bett aus dicken Holzbohlen. Oben war ein Heuboden, den man wegen der Hanglage des Hauses von außen ebenerdig betreten konnte, unten ein schöner, gewölbter Keller, in dem Fässer in Reih und Glied standen.

Im gegenüberliegenden, langgestreckten Haus war wieder ein solcher Keller, im oberen Geschoß fanden sich zwei Räume. Die Bodenbretter des Dachstocks hatten Löcher. Wir wagten nicht, ihn zu betreten. Schade, hier war auch das Dach nicht mehr dicht.

Das vierte Gebäude war ein geräumiger Stall, zu dessen Heuboden eine Außentreppe führte.

Welches Haus war hier wohl verkäuflich? Jedes hatte seinen besonderen Reiz. Ich wußte gar nicht, für welches ich mich entscheiden würde, hätte ich die Wahl. Am schönsten wäre es, wenn man gleich das ganze Weilerchen kaufen könnte. Welch herrliche Feriensiedlung für stadtmüde Menschen würde das geben!

„Und jetzt mußt du das noch anschauen“, wies mich Guido an. Er machte mit der Hand eine umfassende Bewegung über die ganze Gegend.

Da staunte ich noch mehr. Vor lauter Kampf mit dem Gestrüpp und Neugier auf die Häuser hatte ich die Aussicht überhaupt nicht beachtet. Und dabei war sie einfach umwerfend. Wir waren auf einer Bergterrasse gegenüber dem Monte Ceneri. Links sah ich durch die nackten Baumstämme weit unten die Burgen und Mauern von Bellinzona, rechts den Lago Maggiore. Die Spitzen der gegen­überliegenden Berge waren mit Schnee überzuckert. Die Abhänge leuchteten in der Februarsonne hellbraun und grau. Dort, wo die Sonnenstrahlen nicht hintrafen, lagen dunkelblaue Schatten.

Die vier Häuser kuschelten sich in die Ecke einer großen Wiese. Deren stufenförmige Anlage ließ erraten, daß hier einst ein Weinberg gewesen war. Jetzt war alles bedeckt mit honigfarbigem, dürrem Farnkraut.

Wir setzten uns auf die Treppe zum Heuboden des Stalles.

„So, jetzt hast du‘s gesehen“, sagte Guido. „Möchtest du es kaufen?“

„Was?“, fragte ich. „Welches Haus ist denn zu haben?“

Guido machte nochmals eine sehr umfassende Gebärde und zählte auf: „Die vier Gebäude, fünfzehn­tausend Quadratmeter Weinberg und fünftausend Quadratmeter Kastanienwald.“

Ich schluckte leer und schloss die Augen. Quadratmeter und Häuser und Ställe und Schlüssel und Zoccoli und Polentapfannen wirbelten in meinem Kopf herum.

Das war viel zu schön. Aber eigentlich brauchte ich nur ein Haus, nicht vier, und überhaupt – das würde ich nie bezahlen können.

„Wieviel?“ Das kam sehr zaghaft.

„Zehntausendneunhundert Franken. Die neunhundert kannst du noch abmarkten. Sie sind dafür eingebaut.“

Ich schluckte nochmals und brauchte einige Zeit, um mich zu fassen.

„Aber wieso ist das denn so billig? Würde man diese Häuser heute mit so schönen Bruchsteinmauern bauen und mit Steinplatten decken, die zehnfache Summe würde nicht ausreichen.“

„Typisch Frau“, brummte Guido, „sieht die Nachteile nicht.“ An seinen klobigen Fingern zählte er auf: „Erstens hat das Dorf keine Autozufahrt. Eine Straße zu bauen, wäre in dem steilen Gelände sehr teuer, obschon sie nur etwa sechshundert Meter lang sein müsste. Zweitens hat es keinen elektrischen Strom.

Und drittens und das ist der größte Haken – hat es kein Wasser. Da war eine Quelle, aber der Brunnen ist vor mehr als fünfzig Jahren versiegt. Der damalige Besitzer baute sich dann diese Wasserzisterne, die durch das von den Dächern abfließende Regenwasser gespeist wurde.“

Er deutete auf ein gemauertes Viereck neben dem Stall, etwa vier Meter lang und drei Meter breit. Der unten angebaute Brunnentrog ließ vermuten, daß es gut zwei Meter tief war. Dann hätten also etwa zwanzig Kubikmeter Regenwasser darin Platz.

Guido erläuterte weiter: „Zum Tränken des Viehs und zum Bewässern des Weinbergs genügte das. Und das Trinkwasser? Ich weiß nicht. Wahrscheinlich tranken sie eben Wein.“

Wir schwiegen ein Weilchen. Die Sonne schien warm auf mein kleines Paradies. Ich schaute auf den Wald unter mir. Es waren nicht nur Kastanienbäume da, auch Eichen, Linden, Nussbäume und Birken. Mitten im Weinberg standen ein Apfel-, ein Feigen- und zwei Kirschbäume.

Unterhalb des Stalles, dort, wo der Misthaufen war, würde ich den Garten anlegen.

Ich sah Ziegen grasen und hörte Hühner gackern. Ich sah auch blaue Trauben unter rotem und gelbem Weinlaub, braungebrannte Feriengäste, die sich wohlig unter bunten Sonnenschirmen räkelten.

Wie lange unser Schweigen dauerte, weiß ich nicht. Ich wußte damals auch nicht, wie sehr sich mein Leben durch meinen Entscheid ändern würde. Aber ich hatte mich entschlossen.

„Ich kauf‘s“, sagte ich. „Und ich bezahle die gesamten zehntausendneunhundert Franken. Soviel ist es mir wert.“

Damals wußte ich noch nicht, wieviel neunhundert Franken wert sein können.

Beim Abschluss des Kaufvertrages mit Guido und seiner Schwester, die das Gut von ihrem Onkel Delio in Amerika geerbt hatten, erfuhr ich den Namen meines Dorfes: „Monte Valdo“.

Ende der Leseprobe.

Hier geht’s zu den Büchern.

Wir haben für Sie alle Leseproben bereitgestellt (klicken Sie auf den Link):

Tessiner Tagebuch Band 1 - Kleine Welt im Tessin

Tessiner Tagebuch Band 2 - Dies ist mein Tal - dies ist mein Dorf

Tessiner Tagebuch Band 3 - Mit herzlichen Tessiner Grüssen

Tessiner Tagebuch Band 4 - Nach jedem Winter kommt ein Sommer

Tessiner Tagebuch Band 5 - Von Lämmern und Leuten von Froda

Tessiner Tagebuch Band 6 - Grosser Stall kleines Haus

Tessiner Tagebuch Band 7 - Ein Dach überm Kopf

Tessiner Tagebuch Band 8 - Von früh bis spät in Froda

Tessiner Tagebuch Band 9 - Kathrins Begegnungen

Viel Freude beim Lesen! Herzliche Grüsse!

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Kathrins kleine Welt im Tessin.

Die Kleine Welt im Tessin in den Tessiner Tagebüchern herzlich erzählt und geschrieben von Kathrin Rüegg. Hier haben wir alle Informationen zu Kathrin zusammengefasst. Hier finden Sie die Homepage von Kathrin bei smartmyway.

 

Seit 2018 Chief Publisher, Mitbegründer, Verwaltungsrat und Teilhaber von smartmyway. Übersetzer und Autor. Vorher als Geschäftsführer des Seth-Verlags sowie als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Lugano tätig.

Experte für Kommunikation, Media Management, Verlagswesen, professionelle Übersetzungen, Veröffentlichungen von digitalen Publikationen von internationalen und nationalen Autoren, Spezialist für Amazon-Publikationen, Medien-Digitalisierung.