Leseprobe 9: “Kathrins Begegnungen”.
Leseprobe Tagebuch 9: “Kathrins Begegnungen”.
Jedes Leben ist eine einmalige Geschichte. Wir schreiben sie selbst und finden Inspiration in den Kapiteln anderer Menschen. Ein besonderer Mensch war Kathrin Rüegg, eine starke, erfolgreiche und bemerkenswerte Frau, die als Anfangvierzigerin ihr Leben komplett geändert und einen Neubeginn im Tessin gewagt hat. Hier geben wir Einblick in Kathrins Geschichte.
Maurizio Vogrig, 30. September 2020
Dort, in diesem wunderbaren Stück Italianità im Süden der Schweiz und mitten im Herzen Europas. Nichts und Niemand hat sie von ihrem neuen Lebensweg abgebracht. Die dabei erlebten Geschichten hat sie aufgeschrieben und bald veröffentlicht: Ihre Tagebücher haben Millionen Lesende gefunden, die damit ein wenig ihre Sehnsucht nach dem einfachen Leben in der Natur stillen konnten.
Für uns Grund genug, diese Geschichten wieder weltweit den Menschen zu erzählen und sie an der kleinen Welt im Tessin aus der Ferne und doch sehr nahe teilhaben zu lassen. Wir wünschen Ihnen gute Unterhaltung mit dem neunten Band der Tessiner Tagebücher von Kathrin Rüegg. Mit ihrer kleinen Welt im Tessin, wo Sie jetzt auch Teil davon werden.
Wir freuen uns! Mit herzlichen Tessiner Grüssen! Hier beginnt sie, die neunte Geschichte von Kathrin.
Tessiner Tagebuch Band 9:
Kathrins Begegnungen
Alles wirkliche Leben ist Begegnung
Angelehnt an einen Blumentopf, in dem ein Veilchen blühte, stand die Karte. Ein freundlicher Mensch hatte beides hingestellt, um mich willkommen zu heißen. Der freundliche Mensch war eine Nonne, und der Raum, in dem die Blume auf der Fensterbank blühte, war eine Klosterzelle. Wieder einmal war ich auf einer Lesereise. Seit Jahren schon wartete ich darauf, der Einladung des Klosters Folge leisten zu können. Jetzt war es soweit. Eine scheue junge Nonne – war das jetzt eine Novizin? – hatte mich hierher begleitet, damit ich mich „frisch machen“ konnte. Sie würde mich in einer halben Stunde, wenn das mir angenehm sei, wieder abholen.
Ich schaute durchs Fenster in den Garten, der von einem Kreuzgang eingeschlossen war. Es war ein zum Schlafen zugedeckter Novembergarten, der in mir zwei Gefühle weckte: einerseits das Wissen um die Fürsorglichkeit der Schwestern, die die offenbar frostempfindlichen Pflanzen mit Tannästen abgedeckt hatten, andererseits die Ruhe und Stille, die vom Ganzen ausgingen. Leben in einem Kloster? Ich könnte es mir vorstellen. Abgeschieden sein, sich nur noch einer Aufgabe widmen, nicht mehr gegen jene tausend Widerwärtigkeiten kämpfen, die in meiner heutigen Situation einfach dazugehören. Ich muß an den Blumentopf gestoßen sein. Die Karte tanzt zu Boden wie ein vom Baum losgerissenes Herbstblatt.
„Jedes wirkliche Leben ist Begegnung“, steht darauf. Martin Buber hat das gesagt. Martin Buber, der jüdische Philosoph, zitiert im katholischen Frauenkloster.
Begegnung ist wirkliches Leben? Vielleicht war es einfach meine Müdigkeit, daß ich den Sinn dieses Satzes nicht sofort in seinem ganzen Umfang begriff. Oder auch die Tatsache, daß ich täglich so vielen Menschen leider allzu flüchtig begegnete. Menschen. Aber „Begegnung“ heißt ja nicht nur „Menschen begegnen“. Ich kann auch Bäumen begegnen, Tieren, Landschaften. Wenn ich das so verstehe, wie es Martin Buber sicher gemeint hat, dann wird meine Welt noch bunter. Nicht unbedingt schöner, denn wie viele unangenehme, ärgerliche, traurige Begegnungen gibt es auch? Aber das ist „wirkliches“ Leben. Und zudem: Wie sehr überwiegen doch diejenigen Begegnungen, die mir etwas mitgeben, jener Austausch von Sympathie, Wissen, Freundschaft, jener Strom, der nicht aufhört zu fließen, auch wenn man einmal nicht gleicher Meinung ist.
Begegnung. Wenn ich so darüber nachdenke, wem ich gerne begegne…
Da ist zum Beispiel mein Nachbar Olimpio. Im Winter begegnen wir uns meist zweimal am Tag, denn zweimal täglich trägt er einen heubeladenen Korb von der andern Talseite her an meinem Haus vorbei hoch zu seinen Ziegen. Olimpio ist mit Leib und Seele Bauer. Die Art Bauer, die nur einer sein kann, dessen Vorfahren schon Bauern waren. Er weiß, daß in andern Berufen die Arbeit nach Stunden gerechnet wird und daß man nach fünf Arbeitstagen Recht auf zwei Tage zum Nichtstun hat, daß einem vier oder mehr Wochen für Urlaub zustehen plus ein doppeltes Gehalt an Weihnachten. Obwohl er das alles haben könnte – denn er hat den Beruf des Steinhauers gelernt–, bleibt er bei seinen Ziegen. Die füttert und melkt er jeden Tag zur selben Stunde. Zum Nichtstun, Ausschlafen, für Urlaub bleibt keine Zeit, und keiner zahlt ihm je den doppelten Preis für das, was er produziert.
Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – begegne ich Olimpio nie, ohne daß er mir ein freundliches Grußwort sagt. Meist bleibt er ein paar Minuten lang stehen, und wir schwatzen zum Beispiel übers Wetter. Einen bessern Wetterpropheten gibt es nicht.
Und dann denke ich an meine Begegnung mit Fiorente, jener alten Frau, die mir vor bald zwanzig Jahren das Wollespinnen mit dem Spinnrad beigebracht hat. Wie warmherzig war sie, wie klug und weitsichtig – mit ganz viel Verständnis für die jungen Menschen.
Ich sehe sie noch vor mir, wie sie in ihrer Küche saß, das Spinnrad schnurren ließ, dabei meine unbeholfenen Versuche überwachte.
„Die jungen Leute von heute sind zu bedauern“, sagte sie. Heute brauchen sie Kurse für Selbstverwirklichung, sie müssen Stunden nehmen, um zu lernen, wie sie ihr Seelenleben im Gleichgewicht behalten können und all solches Zeug. Wenn einer um sein Überleben kämpfen muß, hat er keine Zeit, um über Depressionen und Aggressionen, und wie das alles heißt, auch nur nachzudenken, geschweige denn, es zu bekommen.
Ich habe meine zwölf Kinder großgezogen, ohne Papierwindeln, ohne Extra-Spielplätze, ohne Fertigbrei, Geschichten auf Tonband-Kassetten und Plastikautos und Gummibärchen. Aus allen ist etwas Rechtes geworden – und erst letzthin ist mir klar geworden, daß das meine Selbstverwirklichung war. Nur nannte man es damals halt schlicht ein gottesfürchtiges Leben…“
Nach einer Weile, währenddem man nur das Geräusch unserer Spinnräder hörte, fügte sie noch hinzu:
„Vielleicht ist das heute alles so kompliziert, weil der liebe Gott in Vergessenheit zu geraten scheint…“
Fiorente ist längst tot. Vielleicht sieht sie jetzt auf mich herunter, sieht, daß ich in den Klostergarten hinunterschaue, fühlt, daß ich an sie denke.
Draußen hat es ganz sanft zu schneien begonnen in der sinkenden Dämmerung. Die leise herabfallenden Flocken verstärken den Eindruck von Ruhe und Geborgenheit noch. Ich schaue in den Garten, stelle mir vor, wie er im Sommer aussehen wird, wenn alles blüht, wenn die Bienen wieder summen. Irgendwo bimmelt eine Glocke, ruft wohl die Schwestern zu einem Gottesdienst.
Erst als es zaghaft an meine Türe pocht, wird mir bewußt, daß ich auch der Stille begegnet bin. Der Stille, die mehr denn je zum wirklichen Leben gehört.
Ende der Leseprobe.
Hier geht’s zu den Büchern.
Wir haben für Sie alle Leseproben bereitgestellt (klicken Sie auf den Link):
Tessiner Tagebuch Band 1 - Kleine Welt im Tessin
Tessiner Tagebuch Band 2 - Dies ist mein Tal - dies ist mein Dorf
Tessiner Tagebuch Band 3 - Mit herzlichen Tessiner Grüssen
Tessiner Tagebuch Band 4 - Nach jedem Winter kommt ein Sommer
Tessiner Tagebuch Band 5 - Von Lämmern und Leuten von Froda
Tessiner Tagebuch Band 6 - Grosser Stall kleines Haus
Tessiner Tagebuch Band 7 - Ein Dach überm Kopf
Tessiner Tagebuch Band 8 - Von früh bis spät in Froda
Tessiner Tagebuch Band 9 - Kathrins Begegnungen
Viel Freude beim Lesen! Herzliche Grüsse!
Seit 2018 Chief Publisher, Mitbegründer, Verwaltungsrat und Teilhaber von smartmyway. Übersetzer und Autor. Vorher als Geschäftsführer des Seth-Verlags sowie als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Lugano tätig.
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