Leseprobe 6: “Grosser Stall kleines Haus”.
Leseprobe Tagebuch 6: “Grosser Stall kleines Haus”.
Hier finden Sie die Leseprobe zum sechsten Tessiner Tagebuch von Kathrin Rüegg.
Maurizio Vogrig, 30. September 2020
Wir freuen uns! Mit herzlichen Tessiner Grüssen! Hier geht sie weiter, die sechste Geschichte von Kathrin.
Tessiner Tagebuch Band 6:
Grosser Stall kleines Haus
Eine Art Wohnzimmer. Etwa fünf mal dreieinhalb Meter groß. L-förmig an der Wand zwei Betten mit Rückenkissen, damit das Ganze tagsüber als Sitzgelegenheit dienen kann. Zufallsmobiliar: ein Büchergestell, ein Eß-Schreib-Arbeits-Spieltisch, sieben mit Schaffellen bedeckte Stühle. Ein defekter Fernsehapparat, Berge von Büchern, Berge von Schallplatten, ein Kamin, der nicht ziehen will, ein Ölofen, angefangene Stricksachen, drei Spinnräder. Unterm Wandbrett für Telefon und Radio eine Nähmaschine im Koffer. An den Wänden Vergrößerungen von Katzenfotos. Am Boden eine Reihe ausgelatschter Schuhe, zwei leere Katzenteller, eine Gitarre, eine kleine Handharmonika, ein Wecker, ein Plattenspieler. Auf einem der Betten ein schlafender Hund.
In einer Ecke auf dem Tisch eine Katze, die sich eifrig wäscht, an der andern Ecke eine Schreibmaschine, die zu klappern begonnen hat, um ein neues Buch zu schreiben.
«Bitte, sagen Sie mir doch, wie man ein Buch schreibt, ich möchte gerne ein berühmter Schriftsteller werden.» So fragte mich vor einiger Zeit ein sechzehnjähriger Junge.
«Lieber Nöldi», antwortete ich ihm. «Wie <man> Bücher schreibt, weiß ich nicht. Ich weiß bloß, wie ich es mache:
Ich nehme einen roten Faden - diesmal nicht einen, den ich aus Wolle mit dem Spinnrad drehe, sondern ein Grundthema, das sich durch ein ganzes Buch zieht. Um dieses Thema herum webe ich meine Eindrücke, meine Ansichten, Erfahrungen, meine Gefühle. Spinnen und Weben machen mir nicht nur manuell, sondern auch mit Worten Spaß.»
Und ob es Spaß macht! Es macht mir Spaß, zu schreiben. Aus vielerlei Gründen. Ich sehe vor mir die interessierten Gesichter einer Leserschar, zwar anonym, aber doch von meinen Signierreisen her vertraut. Da sind die Briefe mit den vielfältigen Fragen. Da sind auch meine Beobachtungen, die andern vielleicht nützen, wenn ich sie weitergebe. Da ist auch das Geld, das ich mit meiner Schreiberei verdiene. Nicht daß ich dadurch auf den Gedanken käme, meinen Lebensstil auch nur um einen Deut zu ändern. Aber ich kann damit Pläne verwirklichen, von denen ich früher kaum zu träumen wagte. Pläne, die es mir zum Beispiel ermöglichen, junge Menschen den Sinn des Lebens zu lehren. Eines allerdings kann ich Nöldi nicht sagen:
Wie man Schriftsteller wird. Ein solcher sublimiert die Dinge, übersetzt sie gewissermaßen, spricht in Gleichnissen, bildet aus den Charakteren verschiedener Personen eine neue Person. Das kann ich nicht. Wenn ich schreibe, was Onkel Arthur tut und sagt, wie Susi denkt, wie Margrith spricht, dann bin ich nur noch Berichterstatter und möchte auch als solcher verstanden werden. Zum besseren Verständnis: ein Schriftsteller ist ein Maler. Das was ich schreibe, kann man dagegen mit fotografieren vergleichen.
Der rote Faden dieses Buches nun sollen die Tiere sein. Meine Tiere. Ganz gewöhnliche Nutztiere. Schaf, Huhn, Kaninchen, allerhand Federvieh und ein Hund, sieben Katzen. Ein Leser wünschte zwar von mir im nächsten Buch über Wühlmäuse und Singvögel zu lesen. Nutztiere zu beobachten sei sehr einfach. Hoffentlich verzeiht er mir, wenn ich seiner Anregung nicht folge. Dafür sind mir aber vielleicht zum Beispiel Kleintierhalter dankbar, wenn ich genau erkläre, wie wir mutterlose Lämmer aufziehen oder Ziegenhebammen sind. So einfach ist auch der Umgang mit Nutztieren nicht, wenn man sie optimal halten will.
Was ich um den Tier-Faden herumwebe? Da sind die Mitbewohner meines viel, aber viel zu kleinen Hauses. Da ist unser Dorf, unser ganzes Tal.
Wir leben auf dem Lande. Wir ernähren und kleiden uns wo immer möglich mit dem, was wir selbst produzieren. Wir leben mit Tieren, von ihnen und für sie. Wir versuchen, jene Geheimnisse wiederzufinden, die vom Fortschritt der Zivilisation überrollt und verdrängt worden sind. Wir versuchen auch, uns eine eigene, vom gesunden Menschenverstand diktierte Meinung zu vielen aktuellen Fragen zu bilden. Sage ich «wir», dann sind dies im Augenblick in erster Linie die bald fünfundzwanzigjährige Susi, der vierundzwanzigjährige Remo, die bald neunzehnjährige Margrith und ich. Ich habe noch diese Woche meinen fünfzigsten Geburtstag. Spinnrad schnurre, Webstuhl (und Schreibmaschine) klappere!
Lebewesen werden geboren. Bei einer Geburt dabei zu sein - auch wenn zu bestimmten Jahreszeiten täglich etliche erfolgen - erfüllt mich immer aufs Neue mit einer sanften, warmen, wohligen Freude. Hat ein Tier meine Hilfe nötig, kann ich ihm wirklich beistehen: stolz bin ich darauf nicht - aber sehr glücklich. Gestern zum Beispiel, gestern war genau solch ein Tag:
Wir sind in der ersten Märzwoche. Unsere gegenwärtige Hauptarbeit ist, wie letztes Jahr, die Betreuung der Schafe im Gemeinschaftsstall des Dorfes.[1] Wir vier tun die Arbeit meist alle miteinander. Susi fährt allerdings zuerst ins nächste Dorf, nach Rasco, um in ihrer Forellenzucht die Fische zu füttern, die Zu- und Ablaufkanäle zu kontrollieren und nötigenfalls zu reinigen.
Wenn wir die Schiebtüre des Stalles öffnen, wird uns nicht nur in allen Tonlagen entgegengeblökt. Ausser unsern hundertzwanzig Schafen mit etwa neunzig Lämmern meckern auch noch achtzig Ziegen und fünfzig Zicklein. Diese gehören Elio, einem jungen Bauern aus dem nächstunteren Dorf. Es ist nun etwa vierzehn Tage her, seitdem die ersten Zicklein zur Welt gekommen sind. Unsere Schafe gebären ihre Lämmer meist still und leise über Nacht. Am Morgen finden wir dann ein auf wackligen Beinchen hinter seiner Mutter daherstelzendes Wollewesen. Wir bringen Mutter und Kind für einige Tage in eine Einzelboxe. Dort können wir sowohl die Lämmchen als auch die Mutter kontrollieren. Hat keines Durchfall? Ist genug Milch vorhanden? Die Mutter erhält auf diese Art auch eine größere Portion Kraftfutter und Vitamine. Daß wir ihr extra-gutes Heu oder Emd geben, ist klar.
Bei Elios Ziegen dagegen, da ist Gebären oft eine dramatische Angelegenheit. Nicht jede, aber ich denke so jede vierte oder fünfte braucht Hilfe. Elio hat neben seiner Herde in unserem Stall noch dreißig weitere Tiere. Er besorgt alle allein. Nun tritt eben der Fall ein, daß wir unsere Schafe füttern und dann jene besonderen gequälten, gepreßten Schreie hören, mit denen uns eine Ziege ihren Mutterschmerz mitteilt. Elio können wir nicht erreichen. Was also tun? Vorerst nichts anderes, als der Ziege ein bißchen hartes Brot geben und sie streicheln. Zu wissen, daß sie nicht allein ist, beruhigt sie.
Bald wird die wassergefüllte Fruchtblase sichtbar. Sie platzt von selbst. Die Ziege schreit, preßt, zwei Kitzfüße erscheinen. Wir wären versucht, daran zu ziehen. Aber vorläufig warten wir lieber. Wahrscheinlich kann man mit Zuviel-helfen-wollen mehr schaden als nützen. Zudem wissen wir, daß zumindest die Lage des Kitzes richtig ist. Sowohl beim Schaf wie bei der Ziege setzt das Kind mit gestreckten Vorderbeinen zu einem Kopfsprung in die Welt an. Nun sehen wir auch das Mäulchen des Kitzes, seine Zungenspitze. Ganz sanft ziehe ich - sobald die Mutter preßt - abwechslungsweise am rechten und am linken Bein leicht gegen abwärts. Der Kopf ist nun draußen. Das Kitz schreit, bevor es ganz aus dem Mutterleib geglitten ist, flutscht uns aus den Händen, landet am Boden. Wir reinigen sein Gesicht.
Es versucht bereits, am Finger zu saugen. Wir wischen es mit etwas Stroh ab, legen es vor die Mutter, damit sie es trockenlecken kann. Aber seltsam: sie interessiert sich nicht für ihr Kind.
Noch nicht. Denn sie schickt sich an, ein zweites Zicklein zu gebären. Auch ohne unsere Hilfe geht es diesmal einfach und schmerzlos.
So, nun liegen beide Kinder vor der Mutter. Jetzt werden sie auch geleckt und getrocknet. Ihre schwarzen Felle sind leicht gelockt und glänzen wie Seide. Dem einen sieht man ohne «örtliche» Kontrolle an, daß es ein Böckchen ist. Es hat einen drolligen, dicken, rundlichen Kopf. Wir binden die neue Mutter etwas abseits von den andern Ziegen an, damit keine den Kindern wehtun kann. Ich weiß nicht, ob die Ziegen aller Rassen so streitsüchtig und grob miteinander umgehen. Bei den unsrigen kommt noch dazu, daß auch die Weibchen mit langen und recht spitzen Hörnern bewehrt sind. Leicht kann es dann eben geschehen, daß ein Kitz von der Nachbarin seiner Mutter getreten oder sehr unsanft gestoßen wird.
Die neue Familie ist sicher untergebracht. Wir wenden uns wieder den Schafen zu. Streu müssen wir noch geben und die Mineralsalzbecken auffüllen.
Wiederum schreit eine Ziegenmutter. Heute geht es offenbar bei uns zu wie im Gebärsaal einer Klinik bei Vollmond. Ein Blick auf den Kalender: es ist Vollmond. Margrith bleibt als Beruhigungs-Krankenschwester bei der Ziege. Wir arbeiten weiter. Remo und Susi gehen nach Hause, um das Frühstück zu richten. Die Ziege schreit. Sie hat aber nur ganz schwache Wehen. Lange Zeit vergeht. Wir haben nie eine Uhr, aber wir wissen, daß eine Minute doppelt so lange dauert, wartet man auf etwas.
Endlich, endlich sehen wir die beiden Füßchen. Sanftes Ziehen. Das linke Bein läßt sich bewegen. Das Köpfchen wird sichtbar. Das rechte Bein sitzt irgendwie oder irgendwo fest wie in einem Schraubstock. Stärker ziehen. Nichts. Sobald ich den Fuß loslasse, gleitet er wieder zurück in den Mutterleib.
Wir werden nervös. Wir können doch das Kitz nicht sterben lassen. Was würde Elio von uns denken?
Vor ein paar Tagen hat er eine alte Frau zu Hilfe gerufen. Eine Hebamme. Eine Menschen-Hebamme. Der habe ich damals gründlich auf die Finger geschaut. Gottseidank. Ich weiß, was sie tat - und werde nun dasselbe versuchen. Margrith rast ins nächste Haus, um sich ein Becherchen voll Salatöl geben zu lassen. Sie schüttet mir davon auf die hohle Hand, die ich gründlich mit Seife gewaschen habe. Ich versuche, das Öl in den Geburtsgang zu bringen, ihn mit leichter Massage zu erweitern. Dann gleite ich mit meiner Hand in den Leib. Meine Mutter hat oft über meine kleinen Hände gelächelt und mir prophezeit, ich würde Hebamme. Liebe Mama, wenn Du wüßtest, daß ich es nun bin! Eine sehr verzweifelte und ratlose Hebamme allerdings, denn im Ziegenbauch drin erfühle ich diverse Beinchen und mehr als einen Kopf. Wiederum ziehe ich an den beiden nun gut sichtbaren Beinen. Das rechte sitzt fest!
«Da, da kommt noch ein drittes Bein zum Vorschein. Sieh, hier, unter dem Kinn des Kitzes.»
Margrith hat es entdeckt.
«Jetzt trau ich mich nicht mehr. Da muß der Tierarzt her.»
«Aber bis der da ist, das dauert doch mindestens eine Stunde. Bitte, bitte, hilf ihr.»
Also öle ich alles nochmal ein. Margrith kommt auf die gloriose Idee, an jenem Beinchen zu ziehen, das unter dem Kinn liegt. Hurra - das geht! Die beiden Zicklein purzeln förmlich heraus. Wir befreien sie vom Schleim. Das zweite atmet sofort. Das erste liegt leblos am Boden.
«Mund-zu-Mund-Beatmung machen!»
Meine Margrith, die vor ein paar Monaten noch kaum Blut an einem Finger sehen konnte, kniet mist-und strohbedeckt neben mir am Boden, bläst in den Mund des kleinen schleimigen Wesens. Man könnte wohl sagen, ein neugeborenes Tier sehe unappetitlich aus. Aber es pocht an all unsere Mutterinstinkte. So beachten wir weder Schleim noch Blut noch Exkremente, wünschen uns bloß, das Kind zum Atmen zu bringen. Margrith drückt dem Tier den Brustkasten rhythmisch zusammen. Nichts. Nun tätscheln wir es, dann geben wir ihm kleine Ohrfeigen. Einer, der da zuschaute und nichts davon verstünde, würde sagen, wir gehen recht unsanft mit ihm um. Wir spritzen ihm kaltes Wasser ins Gesicht. Schließlich halte ich es an den Hinterbeinen hoch und schwinge es wie ein Uhrpendel hin und her. Wir legen es wiederum auf den Boden, reiben es mit Stroh ab.
Jetzt, jetzt zuckt es. Es atmet tief ein. Gerettet! Wir fallen vor Freude Mama Ziege um den Hals. Wir streicheln sie und bringen ihr als erstes einen Kübel lauwarmes Wasser zum Trinken. Mir fällt immer wieder auf, daß die Tiermütter nach der Geburt ungemein durstig sind. Die Schafe können sich an den Selbsttränken bedienen. Die angeketteten Ziegen sind auf unsere Aufmerksamkeit angewiesen.
Elio kommt, wir präsentieren ihm den Zuwachs. Er entschuldigt sich verlegen. Er kann wirklich nichts dafür, daß seine Ziegen sich immer genau den Zeitpunkt aussuchen, zu gebären, wenn er nicht da ist. Wenn Elio bloß die geringste Ahnung hätte, wie gern wir seinen Tieren und damit ihm helfen.
Auf dem Heimweg sprechen wir darüber, daß wir von Geburtshilfe viel, viel mehr wissen sollten. Es gibt wohl kaum irgendwo Geburtshelferkurse für Schaf- und vor allem für Ziegenhalter. Könnte man das nicht organisieren? Wir bräuchten einen Tierarzt, eine Herde, bei der in einer möglichst kurzen Zeitspanne viele Geburten zu erwarten sind.
Wir könnten gewiß auch die Frauen von Ziegenhaltern interessieren. Mir scheint, Hebammendienst sei eigentlich Frauensache. Die Unterkunftsmöglichkeiten der Kursteilnehmer müßten wir noch ausfindig machen. Haben wir all diese Fragen geklärt, gibt es möglicherweise nächstes Jahr Ende Februar ungewohnten Betrieb in Froda - und zweifellos dankbare Ziegenmütter …
[1] Dieses Jahr sind es fünf verschiedene Besitzer, die uns wintersüber ihre Schafe anvertraut haben.
Ende der Leseprobe.
Hier geht’s zu den Büchern.
Wir haben für Sie alle Leseproben bereitgestellt (klicken Sie auf den Link):
Tessiner Tagebuch Band 1 - Kleine Welt im Tessin
Tessiner Tagebuch Band 2 - Dies ist mein Tal - dies ist mein Dorf
Tessiner Tagebuch Band 3 - Mit herzlichen Tessiner Grüssen
Tessiner Tagebuch Band 4 - Nach jedem Winter kommt ein Sommer
Tessiner Tagebuch Band 5 - Von Lämmern und Leuten von Froda
Tessiner Tagebuch Band 6 - Grosser Stall kleines Haus
Tessiner Tagebuch Band 7 - Ein Dach überm Kopf
Tessiner Tagebuch Band 8 - Von früh bis spät in Froda
Tessiner Tagebuch Band 9 - Kathrins Begegnungen
Viel Freude beim Lesen! Herzliche Grüsse!
Seit 2018 Chief Publisher, Mitbegründer, Verwaltungsrat und Teilhaber von smartmyway. Übersetzer und Autor. Vorher als Geschäftsführer des Seth-Verlags sowie als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Lugano tätig.
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