Leseprobe 4: “Nach jedem Winter kommt ein Sommer”.

Leseprobe Tagebuch 4: “Nach jedem Winter kommt ein Sommer”.

Hier finden Sie die Leseprobe zum vierten Tessiner Tagebuch von Kathrin Rüegg.

Maurizio Vogrig, 30. September 2020

Wir freuen uns! Mit herzlichen Tessiner Grüssen! Hier geht sie weiter, die vierte Geschichte von Kathrin.



Tessiner Tagebuch Band 4:

Nach jedem Winter kommt ein Sommer


Der Zug hält kreischend. Ich öffne die Türe, steige aus. „Buon giorno, Signora“, sagt der Mann mit der roten Mütze zu mir, „auch wieder im Land?“

Schön ist es, heimzukommen, schon vom Bahnhofsvorstand begrüßt zu werden, obschon der Bahnhof gute dreißig Kilometer von Froda entfernt ist.

Sechs Wochen lang stand mein Auto hier, wartete auf mich, so wie ich auf meine Heimkehr wartete. Sechs Wochen sind eine lange Zeit. Wie viele Kilometer ich eisenbahnfahrend hinter mich gebracht habe, weiß ich nicht. Auch in der kleinen Schweiz summieren sie sich, wenn man zickzack fährt. Montag Chur, Dienstag St. Gallen, Mittwoch Zürich, Donnerstag Schaffhausen, Freitag Aarau, Samstag Basel. So reist einer, der Bücher schreibt und sie dann in Buchhandlungen signieren geht.

„Lustig ist das doch, so herumzukutschieren. Das sind die schönsten Ferien.“ Emilia war dieser Ansicht, als ich ihr meinen Reiseplan zeigte. Der Ton ihrer Stimme klang ein bißchen neidisch. Ich muß sie mal fragen, ob sie je schon weiter als bis Bellinzona und Locarno gekommen ist.

Nun schnurrt mein Auto bergauf. Es scheint, als ob es ganz ohne meine Hilfe die vielen Kurven hinter sich brächte, als ob es Stalldrang hätte wie ein gutes Pferd. Ich begrüße im stillen jene malerischen Winkel des Acquaverdetals, die ich besonders gerne mag, winke einem mir entgegenkommenden Fahrer. Er winkt zurück. Wer auch im Winter hier wohnt, kennt sozusagen jedes Auto und den dazu gehörenden Fahrer.

In Froda stehen ein paar Leute beim Wagen des Bäckers, der das ganze Tal bedient.

„Ciao Caterina, schön, daß du wieder da bist.“ Ich steige aus, atme einmal tief, tief ein. Onkel Arthur ist der Ansicht, die Luft in Froda sei so prickelnd wie Champagner! Nun riecht sie ein bißchen nach Holzrauch. Schnee bedeckt die Wiesen und Häuser, nicht viel, bloß etwa dreißig Zentimeter. Schnee bedeckt die Wunden, die die Bagger ins Bett meines grünen Flusses gerissen haben, Schnee liegt auch auf der häßlichen Betonbrücke, die sie anstelle meiner Hängebrücke gebaut haben. 

Wie ein viel zu schwerer Balken liegt diese Brücke in der Landschaft, unproportioniert, vorfabriziert, zivilisiert. Und dazu kommt, daß sie noch keinen Aufgang und keinen Abgang hat. Ich muß nun talaufwärts durchs steinige Bachbett kraxeln, über ein paar auf die Felsen gelegte Bretter balancieren.

Es gibt viele Leute, die mich deswegen noch ein bißchen mehr bedauern, als sie es sonst schon tun. Solche, die der Ansicht sind, so einsam zu leben, so abgelegen, so mühsam, weil man auch noch den Berg durch den Haselwald hochsteigen muß, das sei doch einfach rein unmöglich.

Ich habe es längst aufgegeben, solchen Leuten zu erklären, daß ich an keinem Ort der Welt lieber sein möchte als gerade hier in Froda, in meinem Häuschen mit den krummen Mauern, bei meinen vielen Tieren. Ich bin viel lieber Königin in einem winzig kleinen Reich als ein anonymes Individuum in einer städtischen Luxuswohnung.

Es gibt ein reizendes schweizerdeutsches Sprichwort, nach dem ich seit jeher lebe: „Jedem Würmli sys Blatt“ – jedem Würmchen sein eigenes Blatt. Wenn mir mein Blatt nun besonders gut gefällt, soll man mir doch die Freude lassen. Die Mühe, diese Freude zu erreichen, ist meine Mühe und macht meine Freude um so größer.

Ich lege meinen Koffer ins Seilbähnchen, den Mantel auch. Ein Mantel ist praktisch für die Stadt. Hier behindert er mich, bleibt an Brombeerranken und Haselstauden hängen. Die Luft ist so trocken, daß ich auch bei mehreren Graden unter Null immer noch in meinem handgesponnenen Pullover warm genug habe. Ich bin kaum ein paar Schritte auf meiner Flußseite gegangen, da höre ich erst Gebell, dann das Geheule und Gejaule meines Hundes. Bona schießt wie eine schwarze Kugel über den Fußweg, wirft mich beinahe um vor Freude. Wir haben ein längeres Gespräch miteinander und gehen bergaufwärts. Plötzlich fühle ich ein Gewicht auf meinen Schultern. Ein Katzenköpfchen reibt sich an meiner Wange. Der rote Kater Fritzli hat meine Stimme gehört und gesellt sich zum Empfangskomitee. Und wo Fritzli ist, ist auch Tintin nicht weit weg. Tintin hat mich nicht hören können. Sie ist taub, aber sie geht immer dorthin, wo ihr Freund Fritzli ist. Sie streicht mir um die Beine und sagt:

„Määähu“, denn Tintin kommt aus Bern und ist die schönste, ganz, ganz weiße Angorakatze – wenn sie sich nicht gerade in irgendeinem Schmutzhaufen oder Miststock gewälzt hat.

Bonas Freudengeheul, die Begrüßung der Katzen – das war nur Vorspiel, sozusagen die Ouverture im Empfangskonzert, denn nun wackeln die steinbedeckten Dächer von Froda, klirren die Fensterscheiben. Pierino hat meine Stimme gehört und begrüßt mich auf seine Art:

„Iiiah, iiiah“. Er unterbricht seine Trompetenstöße, um ein Geseufze von sich zu geben, das ähnlich tönt wie Marinos Motorvelo, wenn es nicht anspringen will.

Ich gehe nicht ins Haus, sondern gleich zum Stall. Die beiden Schafe Kitti und Kätti springen mir entgegen. Groß sind sie geworden, noch größer, weil ihre Wolle ein ganzes Stück gewachsen ist. Sie raufen sich mit Pierino, um meiner rechten Hosentasche möglichst nahe zu sein. Dort drin hat‘s immer ein bißchen hartes Brot. Die beiden Fridoline krähen, die Hühner rennen ans Gitter des Hofes.

„Gähgähgäh“, ruft mir meine Mathilde entgegen.

„Mathilde“, rufe ich.

„Gähgähgäh“, antwortet sie.

Mathilde ist eine Graugans. Sie watschelt zu mir, hinter ihr stolziert Seppli, der weiße Truthahn, gefolgt von seinen drei Hennen. Sepplis Kopfhaut ist dunkelrot.

„Glugluglu“, ruft er mir zur Begrüßung zu. Auch zwei, drei der im Hühnerhof freilebenden Kaninchen hoppeln zu mir. Ich habe für sie ein Haselästchen mitgebracht, an dem sie sofort vergnügt zu knabbern beginnen.

„Salü“, ruft Luzis Stimme von irgendwoher. Luzi ist mein um achtzehn Jahre jüngerer Stiefbruder. Er hat mich während meiner Abwesenheit vertreten.

„Wo bist du?“

„Hier“, sagt er und schwenkt beim Eingang zum Hühnerstall das Eiereimerchen.

Ich setze mich auf die sonnenbeschienene Mauer beim Hühnerhof, umdrängt von Hund, Katzen, Esel und Schafen.

„So“, sage ich, „nun bin ich wieder da und gehe ganz, ganz lange nicht mehr fort. So schön wie hier ist‘s nirgendwo, und so gut wie hier riecht‘s nirgendwo, und liebere Tiere und einen besseren Bruder gibt‘s auch nirgendwo. Was will ich denn noch mehr?“

Dann gehe ich zum Haus, öffne das quietschende Gartentörchen. Der Steintisch im Garten ist gedeckt. Auf den drei Gartenstühlen liegen Schaffelle. Man kann hier rings um den Kalender draußen zu Mittag essen, wenn man sich entsprechend installiert. Aus der Küche schwebt ein herrliches Düftchen nach Rösti – Röstkartoffeln. 

Rosmarie steht unter der Küchentür, eine Schüssel Salat in der Hand. Rosmarie ist Luzis Freundin, zwanzig Jahre alt, blondhaarig, blauäugig und so hilfsbereit wie er. Schön ist es, diese Jungmannschaft hier zu haben, ein bißchen umsorgt zu werden.

Noch vor dem Mittagessen muß ich einen Inspektionsgang mit Luzi machen: hier hat er einen Zaun ausgebessert, da ein neues Schloß angebracht, die Gitter der Kaninchenställchen verstärkt, die Türe zum Hühnerhof abgedichtet. Servicearbeit, die auf einem Bauernhof nie vernachlässigt werden darf, auch wenn der Bauernhof nur winzig klein ist. Auch Odivios Schafe sind von der Alp zurück und werden wiederum von uns besorgt. Sechsundzwanzig sind es. Ein paar der Tiere sind hochträchtig. Ich freue mich schon auf die Lämmchen.

Nachmittags packen Luzi und Rosmarie ihre Koffer. So wie ich alle Tiere ringsum begrüßte, nehmen sie nun bei allen Abschied, und ich bin wiederum allein in meinem kleinen Paradies im Acquaverdetal. Ich bin Alleinsein gewöhnt, habe es gerne, aber in der Gesellschaft von Luzi und Rosmarie war es noch schöner …

Ende der Leseprobe.

Hier geht’s zu den Büchern.

Wir haben für Sie alle Leseproben bereitgestellt (klicken Sie auf den Link):

Tessiner Tagebuch Band 1 - Kleine Welt im Tessin

Tessiner Tagebuch Band 2 - Dies ist mein Tal - dies ist mein Dorf

Tessiner Tagebuch Band 3 - Mit herzlichen Tessiner Grüssen

Tessiner Tagebuch Band 4 - Nach jedem Winter kommt ein Sommer

Tessiner Tagebuch Band 5 - Von Lämmern und Leuten von Froda

Tessiner Tagebuch Band 6 - Grosser Stall kleines Haus

Tessiner Tagebuch Band 7 - Ein Dach überm Kopf

Tessiner Tagebuch Band 8 - Von früh bis spät in Froda

Tessiner Tagebuch Band 9 - Kathrins Begegnungen

Viel Freude beim Lesen! Herzliche Grüsse!

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Kathrins kleine Welt im Tessin.

Die Kleine Welt im Tessin in den Tessiner Tagebüchern herzlich erzählt und geschrieben von Kathrin Rüegg. Hier haben wir alle Informationen zu Kathrin zusammengefasst. Hier finden Sie die Homepage von Kathrin bei smartmyway.

 

Seit 2018 Chief Publisher, Mitbegründer, Verwaltungsrat und Teilhaber von smartmyway. Übersetzer und Autor. Vorher als Geschäftsführer des Seth-Verlags sowie als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Lugano tätig.

Experte für Kommunikation, Media Management, Verlagswesen, professionelle Übersetzungen, Veröffentlichungen von digitalen Publikationen von internationalen und nationalen Autoren, Spezialist für Amazon-Publikationen, Medien-Digitalisierung.