Leseprobe 2: “Dies ist mein Tal - dies ist mein Dorf”.

Leseprobe Tagebuch 2: “Dies ist mein Tal - dies ist mein Dorf”.

Hier finden Sie die Leseprobe zum zweiten Tessiner Tagebuch von Kathrin Rüegg.

Maurizio Vogrig, 30. September 2020

Wir freuen uns! Mit herzlichen Tessiner Grüssen! Hier geht sie weiter, die zweite Geschichte von Kathrin.



Tessiner Tagebuch Band 2:

Dies ist mein Tal - dies ist mein Dorf


Es beginnt mit einem Ende

„Ich weiß auch heute noch nicht, wohin Michelangelo verschwunden ist. Vielleicht schläft er wieder im Wartesaal von Locarno oder in einer Telefonkabine. Wenn mich nicht alles trügt, wird er eines Tages wieder aufkreuzen. So wie Susi Stäubli letzten Februar heimkehrte, als wäre nichts geschehen.

Dann werde ich nicht schelten und nicht fluchen, nur ein fröhliches Zeichen mit dem Zeigefinger von der Schläfe gegen den Himmel machen und sagen: „Ciao.“

Falls er die Gärtnerin mitbringt, werde ich sie mit offenen Armen empfangen. Dank Michelangelo schlummert der Monte Valdo nur noch, er schläft nicht mehr. Wer weiß, dank einer Gärtnerin erwacht er vielleicht ganz.

Nie sind alle Rätsel gelöst.

Auf alle Fälle werde ich diese Geschichte Michelangelo widmen.

Monte Valdo, anfangs Januar 1973.“

 

Dies waren die Schlußsätze meines Manuskripts, das ein Buch mit dem Titel „Kleine Welt im Tessin“ werden sollte.

Nachdem ich die letzten Worte geschrieben hatte, zog ich aufseufzend das Blatt aus der Schreibmaschine. Fertig. Ich hatte es geschafft. Aber ich war nicht glücklich dabei. Es war wie ein Zwang gewesen, der mich getrieben hatte, das nieder­zuschreiben, was ich seit dem Beginn meines „neuen Lebens“ erlebt hatte. Ich kam mir vor wie eine ausgepreßte Zitrone, oder wie einer, der so lange gerannt ist, daß er zuletzt vor lauter Müdigkeit nicht mehr weiß, was sein Ziel ist.

Die Zukunft war ein einziges, großes Fragezeichen. Wenn Michelangelo zurückkam, würden wir mit dem Aus­bau der Häuser meines Weilerchens fortfahren, wir würden den Graben vom Wasserspeicher der Gemeinde bis zu den Häusern machen. Ich hatte die Strecke ausgemessen. Es waren vierhundertachtzig Meter, zu graben durch Wald, felsiges Gelände, zuletzt quer durch den Rebberg.

Wenn Michelangelo zurückkam. Was aber, wenn er nicht zurückkam?

Vorläufig war ich noch beschäftigt. Ich mußte mein Manuskript ins reine schreiben. Von meinem Onkel Arthur hatte ich im Sommer den Rat bekommen, daß Manuskripte absolut „impeccable“ getippt sein müssen. Wegen des ersten Ein­drucks. Sein Rat hatte sich auf eine kleine Hunde- und Katzen­geschichte bezogen, die schließlich in einer deutschen lllustrierten erschienen war. Wieviel mehr Mühe mußte ich mir nun geben, denn einen Verleger für ein Buch zu interes­sieren, ist schließlich viel schwerer.

Ich mußte einen Verleger finden, denn ich hatte die Niederschrift meines Buches begonnen in der Hoffnung, mir mit Schreiben wenigstens einen Teil meines Lebensunterhalts zu verdienen.

Aber Schweizer Autoren scheinen nicht sehr gefragt zu sein. Wer mir das nicht glaubt, blättere einmal fünf große schweizerische Tageszeitungen und fünf Wochenzeitschriften durch. Er wird höchstens einen einzigen Fortsetzungsroman finden, der einheimischen Ursprungs ist, dazu vielleicht drei, vier deutsche, mindestens fünf aber sind Übersetzungen aus dem angelsächsischen Sprachbereich.

Falls kein Verlag sich für mein Buch interessierte, würde ich es umschreiben, würde mich meinetwegen Catherine McRugg nennen und Michelangelo John oder Bob oder so. Und die Handlung würde ich ins schottische Seengebirge oder in die Rocky Mountains verlegen. Jawohl!

Vorerst aber wollte ich es trotz diesen Zweifeln mit Kathrin Rüegg, Michelangelo und dem Tessin wagen. Ich gab mir also Mühe, tippte täglich sechzehn Seiten, auch sonntags, mit einer Kopie.

Michelangelos Heimkehr

Am zehnten Tag, es war an einem Mittwoch, schien eine warme Wintersonne auf meine Kleine Welt. Das Schmelz­wasser des Schnees gluckste in den Regentraufen. Ich saß vor dem Haus auf dem Baumstumpf, auf dem wir Holz zu spalten pflegten, die Schreibmaschine auf den Knien, die beschriebenen Seiten auf der Bank, Schrift nach unten, mit einem Stein beschwert, als Grano und Bona in ein unbe­schreibliches Geheul und Gebell ausbrachen und quer berg­auf rasten. Die aufgeweichte Erde bespritzte die letzte Seite meines Manuskripts, die Schreibmaschine, meine Hände und Haare. Das konnte nur einen einzigen Grund haben:

Michelangelo kam zurück!

Ich nahm den Stein von meinem Blätterberg, stellte statt dessen die Schreibmaschine darauf, das letzte Blatt ließ ich eingespannt, und ging Michelangelo entgegen. Er war es wirklich. Aber wie er aussah!

Rot unterlaufene Augen, abgezehrte Wangen, zerrissene, zerdrückte, schmuddelige Kleider. In der Hand hatte er einen Haselstock. Haare und Bart waren zerzaust, Schuhe und Hose vom Marsch durch den Schneematsch durchnäßt. Verlegen stand er beim langen Haus, ein um Verzeihung bittendes Lächeln auf den Lippen.

„Permesso“, sagte er höflich. Das sagt ein Fremder, der ins Haus tritt.

„Avanti“, sagte ich aufmunternd. Das sagt man, wenn man einen Fremden willkommen heißt. Dann: „Ciao, Michelangelo.“

„Bin ich entlassen?“, fragte Michelangelo.

„Du hast dich selbst entlassen“, erwiderte ich, „aber ich habe dich soeben wieder eingestellt.“

Dann geschah mit meinem rauhen, ungehobelten, ver­soffenen und doch so liebenswerten Michelangelo etwas Seltsames. Er setzte sich auf die Bank vor dem Kamin und weinte. Die Tränen kollerten ihm über die schmutzigen Wangen, verloren sich im Bart. Er schniefte, rieb sich ver­zweifelt mit dem Handrücken die feuchte Nase und nahm schließlich dankbar ein Taschentuch, das ich aus seiner Wäscheschachtel brachte. Unterm Arm hatte ich auch zwei Tazzini und einen Fiasco Barbera. Als Michelangelo dies sah, stoppten die Tränen augenblicklich. Er schaute mich glücklich an, und wir prosteten uns zu.

„Darf ich mich waschen?“, fragte Michelangelo. „Ich bin sehr, sehr schmutzig.“

„Bitte“, sagte ich, „wir haben Schmelzwasser im Überfluß.“ Ich nahm Schreibmaschine und Manuskriptseiten, ihm somit den Brunnen und den Hof als Badezimmer über­lassend, und verzog mich in mein Schlafzimmer. Ich setzte einen Nachsatz unter die fertig abgeschriebene Geschichte:

„P.S.: Er ist seit heute morgen wieder da.“ …

Ende der Leseprobe.

Hier geht’s zu den Büchern.

Wir haben für Sie alle Leseproben bereitgestellt (klicken Sie auf den Link):

Tessiner Tagebuch Band 1 - Kleine Welt im Tessin

Tessiner Tagebuch Band 2 - Dies ist mein Tal - dies ist mein Dorf

Tessiner Tagebuch Band 3 - Mit herzlichen Tessiner Grüssen

Tessiner Tagebuch Band 4 - Nach jedem Winter kommt ein Sommer

Tessiner Tagebuch Band 5 - Von Lämmern und Leuten von Froda

Tessiner Tagebuch Band 6 - Grosser Stall kleines Haus

Tessiner Tagebuch Band 7 - Ein Dach überm Kopf

Tessiner Tagebuch Band 8 - Von früh bis spät in Froda

Tessiner Tagebuch Band 9 - Kathrins Begegnungen

Viel Freude beim Lesen! Herzliche Grüsse!

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Kathrins kleine Welt im Tessin.

Die Kleine Welt im Tessin in den Tessiner Tagebüchern herzlich erzählt und geschrieben von Kathrin Rüegg. Hier haben wir alle Informationen zu Kathrin zusammengefasst. Hier finden Sie die Homepage von Kathrin bei smartmyway.

 

Seit 2018 Chief Publisher, Mitbegründer, Verwaltungsrat und Teilhaber von smartmyway. Übersetzer und Autor. Vorher als Geschäftsführer des Seth-Verlags sowie als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Lugano tätig.

Experte für Kommunikation, Media Management, Verlagswesen, professionelle Übersetzungen, Veröffentlichungen von digitalen Publikationen von internationalen und nationalen Autoren, Spezialist für Amazon-Publikationen, Medien-Digitalisierung.